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Hildebrecht Hommel
hat, dann muß die Übernahme mit dem Schlußergebnis ‘Gemäßheit’
zu einer Zeit erfolgt sein, wo seine totale Bedeutungsverschiebung im
Sinn unserer modernen ‘Symmetrie’ noch nicht eingetreten war. Es
wäre dann noch genau zu erforschen, wann und unter welchen
Umständen die Begriffsverengung stattfand. Wahrscheinlich hat man
dazu das Fremdwort ‘Symmetrie’, und nun in der eingeschränkten
Bedeutung, neu übernommen32.
Das griechische Wort symmetria seinerseits ist eine relativ späte,
fast künstliche Bildung, die uns seit Platon, Xenophon, Isokrates und
Aristoteles häufig begegnet. Wenn wir einer Andeutung des Aetios,
eines griechischen Gelehrten um 100 n. Chr. Geb., glauben dürfen, so
hätte Pythagoras den Terminus geprägt32a. Aetios spricht da, wo er den
32 Bei J. Grimm, Deutsches Wörterbuch X 4.1949,1393-95 reichen die Erstbelege für
symmetrisch und Symmetrie (in unserem Wortsinn) ganz vereinzelt bis ins 16. Jh.
zurück, sie häufen sich jedoch erst im 18. Jh. (Chr. Wolff 1716, Brockes 1721, etc.
etc.). Noch 1519 läßt PI. Piatto den Lionardo da Vinci in dessen Grabschrift spre-
chen:
Mirator veterum, discipulusque memor,
Defuit una mihi symmetria prisca. Peregi
Quod potui; veniam da mihi, posteritas.
Auf deutsch:
War ich auch noch so bestrebt, Schüler der Alten zu sein,
Fehlte mir doch dies eine: ‘Symmetria prisca’. Ich tat mein
Möglichstes. Wenn du mir nur, Nachwelt, den Mangel verzeihst!
Damit ist unzweifelhaft Symmetrie im antiken Sinn gemeint (deren Idee der Ver-
storbene doch so nahe gekommen war). Das Stichwort ‘Symmetria prisca’ hat die
feinsinnige englische Schriftstellerin Vernon Lee (Pseudonym für Violet Paget
1856-1935) 1884 in ihrem Hauptwerk ‘Euphorion’ als Titel einem darin eingegan-
genen Essay vorangesetzt (41899, S. 169-214). Dort zeigt sie die Grenzen der Anti-
kenrezeption in der Kunst der Renaissance auf. Auch hier sei also das antike Ideal,
die ‘Symmetria prisca’, im Grunde unerreicht geblieben oder, wo es erreicht
wurde, bald wieder dem Verfall preisgegeben gewesen. Über Vernon Lee s. das
Gedenkblatt von Rudolf Borchardt (Basler Nachrichten v. 9. 6. 1935), jetzt in R.
B., Gesammelte Werke ... Prosa III 1960, S. 423-428 m. Anm. auf S. 522 (frdlr.
Hinweis von E. Zinn).
Bemerkenswert ist, daß auch Joachim Camerarius das Wort symmetria noch
im weiteren antiken Sinn von Proportion zu gebrauchen scheint; seine lateinische
Übersetzung von Albr. Dürer’s Schrift ‘Von menschlicher Proportion’ (1528) beti-
telt er 1532 ‘De symmetria partium humanorum corporum’. Siehe dazu Jan Biato-
stocki, Dürer und die Humanisten, Pforzheim 1985, S. 20 u. 22 mit den Anmer-
kungen 11, 24 u. 26 auf S. 35ff. Dort auch weitere Literatur.
32a Zahlreiche Stellen aus Platon und Aristoteles sind gesammelt und kurz bespro-
chen von H. Knell in: Symmetrie I 1986, S. 158f. In dem gleichen Band S. 9-16
handelt Gernot Böhme über Symmetrie bei Platon (im antiken Sinn von Kommen-
Hildebrecht Hommel
hat, dann muß die Übernahme mit dem Schlußergebnis ‘Gemäßheit’
zu einer Zeit erfolgt sein, wo seine totale Bedeutungsverschiebung im
Sinn unserer modernen ‘Symmetrie’ noch nicht eingetreten war. Es
wäre dann noch genau zu erforschen, wann und unter welchen
Umständen die Begriffsverengung stattfand. Wahrscheinlich hat man
dazu das Fremdwort ‘Symmetrie’, und nun in der eingeschränkten
Bedeutung, neu übernommen32.
Das griechische Wort symmetria seinerseits ist eine relativ späte,
fast künstliche Bildung, die uns seit Platon, Xenophon, Isokrates und
Aristoteles häufig begegnet. Wenn wir einer Andeutung des Aetios,
eines griechischen Gelehrten um 100 n. Chr. Geb., glauben dürfen, so
hätte Pythagoras den Terminus geprägt32a. Aetios spricht da, wo er den
32 Bei J. Grimm, Deutsches Wörterbuch X 4.1949,1393-95 reichen die Erstbelege für
symmetrisch und Symmetrie (in unserem Wortsinn) ganz vereinzelt bis ins 16. Jh.
zurück, sie häufen sich jedoch erst im 18. Jh. (Chr. Wolff 1716, Brockes 1721, etc.
etc.). Noch 1519 läßt PI. Piatto den Lionardo da Vinci in dessen Grabschrift spre-
chen:
Mirator veterum, discipulusque memor,
Defuit una mihi symmetria prisca. Peregi
Quod potui; veniam da mihi, posteritas.
Auf deutsch:
War ich auch noch so bestrebt, Schüler der Alten zu sein,
Fehlte mir doch dies eine: ‘Symmetria prisca’. Ich tat mein
Möglichstes. Wenn du mir nur, Nachwelt, den Mangel verzeihst!
Damit ist unzweifelhaft Symmetrie im antiken Sinn gemeint (deren Idee der Ver-
storbene doch so nahe gekommen war). Das Stichwort ‘Symmetria prisca’ hat die
feinsinnige englische Schriftstellerin Vernon Lee (Pseudonym für Violet Paget
1856-1935) 1884 in ihrem Hauptwerk ‘Euphorion’ als Titel einem darin eingegan-
genen Essay vorangesetzt (41899, S. 169-214). Dort zeigt sie die Grenzen der Anti-
kenrezeption in der Kunst der Renaissance auf. Auch hier sei also das antike Ideal,
die ‘Symmetria prisca’, im Grunde unerreicht geblieben oder, wo es erreicht
wurde, bald wieder dem Verfall preisgegeben gewesen. Über Vernon Lee s. das
Gedenkblatt von Rudolf Borchardt (Basler Nachrichten v. 9. 6. 1935), jetzt in R.
B., Gesammelte Werke ... Prosa III 1960, S. 423-428 m. Anm. auf S. 522 (frdlr.
Hinweis von E. Zinn).
Bemerkenswert ist, daß auch Joachim Camerarius das Wort symmetria noch
im weiteren antiken Sinn von Proportion zu gebrauchen scheint; seine lateinische
Übersetzung von Albr. Dürer’s Schrift ‘Von menschlicher Proportion’ (1528) beti-
telt er 1532 ‘De symmetria partium humanorum corporum’. Siehe dazu Jan Biato-
stocki, Dürer und die Humanisten, Pforzheim 1985, S. 20 u. 22 mit den Anmer-
kungen 11, 24 u. 26 auf S. 35ff. Dort auch weitere Literatur.
32a Zahlreiche Stellen aus Platon und Aristoteles sind gesammelt und kurz bespro-
chen von H. Knell in: Symmetrie I 1986, S. 158f. In dem gleichen Band S. 9-16
handelt Gernot Böhme über Symmetrie bei Platon (im antiken Sinn von Kommen-