Symmetrie im Spiegel der Antike
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nis zufugt: „ehe das gefunden war, gab’s keine Philosophie“ (Hyperion
12). Metaphysisch ausgelegt heißt das: ‘die Einheit der Gegensätze hat
in der Gottheit ihren Ursprung’, und so wurde es denn auch in der
Folgezeit in zunehmendem Maße verstanden, wovon eine Fülle von
antiken und abendländischen Stimmen Zeugnis gibt64. Zu nennen
wären da neben den Neuplatonikern etwa der tiefsinnige frühchrist-
liche Philosoph, der sogenannte Dionysios Areopagites, weiterhin
unser Meister Eckard, dann Nikolaus von Kues mit seiner docta igno-
rantia der coincidentia oppositorum, ferner der nur halbgebildete und
doch so tiefsinnige schlesische Schuster Jacob Böhme, wie auch die
beiden anderen protestantischen Spiritualisten Sebastian Frank und
Valentin Weigel, bis herab in unsere Zeit zu Hegel, Schelling, Ed. v.
Hartmann und Romano Guardini mit seiner ‘Philosophie des Gegen-
satzes’. Nicht beobachtet scheint bisher die Tatsache zu sein, daß
Johann Sebastian Bach einer seiner weltlichen Kantaten (BWV 207 v.
J. 1726) den Text eines unbekannten Dichters unterlegt hat, der mit
einem Heraklitzitat beginnt: „Vereinigte Zwietracht der wechselnden
Saiten“, was ja wirklich nichts anderes ist als eine fast wörtliche, ledig-
lich etwas verkürzte Übernahme jenes Heraklitworts von der palintro-
pos harmonie hösper ... lyre^5, wovon wir soeben sprachen - auch
wenn der Barockdichter ihm einen banaleren Sinn untergelegt hat, so
als bestünde die ‘vereinigte Zwietracht’ der Saiten bloß in ihrem
Zusammenklang und sei nicht bereits ein Produkt ihrer Spannung.
Freilich verführt die fast allgemein akzeptierte Lesart palintropos har-
monie bei Heraklit, also die ‘gegenstrebige Harmonie’, zu jener Miß-
kdllos depu kai aretepantachü xymbainei gignesthai. Für symmetria als Garantie für
die Teilhabe der Kunst am Logos tritt späterhin ein: Philostratus, Imagines I 1
(ähnlich vom kairos I 9,5); s. dazu O. Schönberger in der Tusculum-Ausgabe
1968, S. 56. Noch ein Mathematiker unserer Zeit vertritt „die Einsicht, daß alles
Schöne in der Harmonie der Teile, also in den Proportionen besteht“ (K. Knopp,
Mathematik und Kultur, Preuß. Jahrbücher 211. 1928, abgedruckt als Jahresgabe
des Verlags W. de Gruyter Berlin 1984/85, hier S. 15). Vgl. jetzt auch H. Götze aO.
(Anm. 9) a) 14f. = b) 72.
64 Dazu ausführlicher, als es hier geschehen kann, H. Hommel, Neue Jahrbücher für
das Klass. Altertum 1924, S. 36ff.; derselbe N. Jbchr. für Wissensch. u. Jugendbil-
dung 1.1925, S. 192ff.
65 In der Diskussion hält E. Zinn als Anregung für den Textdichter auch die hora-
zische concordia discors für ausreichend (Epist. 112,19), die ja bereits in der Litera-
tur der Antike so stark nachgewirkt hat (Ovid, Metamorph. I 433, etc. etc.). Auch
diese Formel geht ja letztlich auf Heraklit zurück. Aber die Erläuterung durch die
„wechselnden Saiten“ scheint mir doch auf jenes Heraklit-Fragment unmittelbar
hinzuweisen.
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nis zufugt: „ehe das gefunden war, gab’s keine Philosophie“ (Hyperion
12). Metaphysisch ausgelegt heißt das: ‘die Einheit der Gegensätze hat
in der Gottheit ihren Ursprung’, und so wurde es denn auch in der
Folgezeit in zunehmendem Maße verstanden, wovon eine Fülle von
antiken und abendländischen Stimmen Zeugnis gibt64. Zu nennen
wären da neben den Neuplatonikern etwa der tiefsinnige frühchrist-
liche Philosoph, der sogenannte Dionysios Areopagites, weiterhin
unser Meister Eckard, dann Nikolaus von Kues mit seiner docta igno-
rantia der coincidentia oppositorum, ferner der nur halbgebildete und
doch so tiefsinnige schlesische Schuster Jacob Böhme, wie auch die
beiden anderen protestantischen Spiritualisten Sebastian Frank und
Valentin Weigel, bis herab in unsere Zeit zu Hegel, Schelling, Ed. v.
Hartmann und Romano Guardini mit seiner ‘Philosophie des Gegen-
satzes’. Nicht beobachtet scheint bisher die Tatsache zu sein, daß
Johann Sebastian Bach einer seiner weltlichen Kantaten (BWV 207 v.
J. 1726) den Text eines unbekannten Dichters unterlegt hat, der mit
einem Heraklitzitat beginnt: „Vereinigte Zwietracht der wechselnden
Saiten“, was ja wirklich nichts anderes ist als eine fast wörtliche, ledig-
lich etwas verkürzte Übernahme jenes Heraklitworts von der palintro-
pos harmonie hösper ... lyre^5, wovon wir soeben sprachen - auch
wenn der Barockdichter ihm einen banaleren Sinn untergelegt hat, so
als bestünde die ‘vereinigte Zwietracht’ der Saiten bloß in ihrem
Zusammenklang und sei nicht bereits ein Produkt ihrer Spannung.
Freilich verführt die fast allgemein akzeptierte Lesart palintropos har-
monie bei Heraklit, also die ‘gegenstrebige Harmonie’, zu jener Miß-
kdllos depu kai aretepantachü xymbainei gignesthai. Für symmetria als Garantie für
die Teilhabe der Kunst am Logos tritt späterhin ein: Philostratus, Imagines I 1
(ähnlich vom kairos I 9,5); s. dazu O. Schönberger in der Tusculum-Ausgabe
1968, S. 56. Noch ein Mathematiker unserer Zeit vertritt „die Einsicht, daß alles
Schöne in der Harmonie der Teile, also in den Proportionen besteht“ (K. Knopp,
Mathematik und Kultur, Preuß. Jahrbücher 211. 1928, abgedruckt als Jahresgabe
des Verlags W. de Gruyter Berlin 1984/85, hier S. 15). Vgl. jetzt auch H. Götze aO.
(Anm. 9) a) 14f. = b) 72.
64 Dazu ausführlicher, als es hier geschehen kann, H. Hommel, Neue Jahrbücher für
das Klass. Altertum 1924, S. 36ff.; derselbe N. Jbchr. für Wissensch. u. Jugendbil-
dung 1.1925, S. 192ff.
65 In der Diskussion hält E. Zinn als Anregung für den Textdichter auch die hora-
zische concordia discors für ausreichend (Epist. 112,19), die ja bereits in der Litera-
tur der Antike so stark nachgewirkt hat (Ovid, Metamorph. I 433, etc. etc.). Auch
diese Formel geht ja letztlich auf Heraklit zurück. Aber die Erläuterung durch die
„wechselnden Saiten“ scheint mir doch auf jenes Heraklit-Fragment unmittelbar
hinzuweisen.