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Biser, Eugen; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1990, 1. Abhandlung): Die Bibel als Medium: zur medienkritischen Schlüsselposition der Theologie; vorgetragen am 27. Januar 1990 — Heidelberg: Winter, 1990

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https://doi.org/10.11588/diglit.48159#0026
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Eugen Biser

chen „Logienquelle“.34 Sie trat inzwischen durch die Entdeckung des
gnostischen Thomasevangeliums aus dem Dunstkreis der bloßen Hypo-
these hervor, so daß sie im Sinne Philipp Vielhauers als „bewiesenes
Postulat“ gelten kann.35 Indessen wird die Frage nach den Entstehungs-
gründen dieser ersten Aufzeichnungen durch die der Sammlung anhaf-
tende Tendenz eher verschärft als beantwortet. Worin bestanden sie?
Einem Hinweis Hans Conzelmanns zufolge wird dabei in erster Linie
an die „zweipolige“ Krisensituation des Urchristentums zu denken sein,
die einerseits durch den Tod der „anfänglichen Augenzeugen und Die-
ner des Wortes“ (Lk. 1,2) und andrerseits durch das Ausbleiben der
Parusie entstanden war.36 Im Maß, wie sich das damit eingetretene In-
tervall zu dehnen begann, wuchs die Gefahr, daß sich in die mündliche
Tradition Interpretamente und in deren Gefolge auch Überlagerungen
nach Art jener einmischten, die nach Ansicht Nietzsches im Lauf der
Zeit „über das Christentum Herr geworden“ sind.37 Gegen diese Bedro-
hung konnte nur in der Form ein Wall aufgeworfen werden, daß die
noch lebendige Überlieferung schriftlich fixiert wurde, um so als authen-
tisches Zeugnis jeder möglichen Verfremdung entgegengesetzt zu wer-
den. Neben der Ausbildung der hierarchischen Ämterordnung hat somit
dieser Dokumentierungsvorgang als die vorzüglichste Strategie zu gel-
ten, mit Hilfe deren die junge Kirche ihre zweifellos schwerste Bela-
stungsprobe bestand.
Daß damit zugleich eine vorzügliche Materialgrundlage für Predigt
und Unterweisung gewonnen war, bestätigt die spätere Einarbeitung
der Spruchsammlung und ähnlicher „Quellenschriften“ in die primär für
katechetische und liturgische Zwecke bestimmten Evangelienschriften.
Indessen zeigt gerade die Entdeckung des Thomasevangeliums, daß
darüber die defensive Funktion keineswegs in den Hintergrund trat.
Denn in Gestalt dieser ,Geheimen Worte, die der lebendige Jesus
sprach und die Didymos Judas Thomas aufschrieb‘, widerfuhr der
Spruchsammlung, wie schon der Titel erkennen läßt, gerade das, was
durch sie verhindert werden sollte.38 Danach war mit der Niederschrift
allein die Gefahr der Überfremdung noch keineswegs beschworen; ihr
34 Dazu Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1970, 263-291.
35 Vielhauer, A.a.O., 622.
36 Conzelmann, Die Mitte derZeit. Studien zur Theologie des Lukas, Tübingen 1954, 6.
37 Nietzsche nennt als Hauptfaktoren Judaismus, Platonismus, Mysterienkulte und As-
ketismus: Nachgelassene Fragmente 1887-1889; KSA XIII, München 1980, 161.
38 Näheres dazu außer bei Vielhauer (A.a.O., 618-735) bei Willem Cornelis van
Unik, Evangelien aus dem Nilsand, Frankfurt 1960, 57-69; 108-150.
 
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