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Eugen Biser
„heilen“ und wie im Interesse des konfessorischen Redens gegen ihren
natürlichen Funktionssinn gewendet und als Medium der Selbstmittei-
lung gebraucht werden, wenn sie im Zweck des Informationstransfers
aufginge? Für die Schrift wäre dann allerdings die Zusatzannahme er-
forderlich, daß ihre Entwicklung im Zug der „symbolischen Selbstmit-
teilung“ des Menschen erfolgte und nicht nur aufgrund soziokultureller
Gegebenheiten. Dies angenommen ist sie im Vergleich zum lebendigen
Sprachvollzug zwar, mit Gadamer gesprochen, eine Form der „Selbst-
entfremdung“, dies jedoch ohne die Folge des völligen Identitätsver-
lustes, so daß in ihr durchaus Elemente der Mündlichkeit fortbeste-
hen.66
Im Fall der neutestamentlichen Schriften betreffen diese, wie Kierke-
gaard, Rahner und Käsemann aus unterschiedlichen Perspektiven sa-
hen, die sich in der Schriftlichkeit durchhaltenden Sprachimplikationen,
konkret gesprochen den ihr zugrundeliegenden „Leidenston“, die von
ihr ausgehende „Vergewisserung“ und das in ihr nachklingende „Macht-
wort“.67 Im Hinblick darauf könnte man die auf die Kompensation der
Textualität angesetzte Lesart auch als eine „akustische“ bezeichnen, so-
fern der Ausdruck nur dahin verstanden würde, daß diese Lektüre auf
eine Rückübersetzung des Textes in das Sprachvolumen der Mündlich-
keit abzielt.68
Als solche nimmt diese Lektüre unmittelbar auf den Chronikcha-
rakter aller Schriftlichkeit, gerade auch der biblischen, Bezug. Dabei
geht sie mit Bultmann davon aus, daß Geschichte keine Vergegenständ-
lichung duldet, sondern nur im Modus der Betroffenheit durch sie ange-
messen erfaßt werden kann.69 Auf die Dokumentation der Lebensge-
schichte Jesu bezogen - und sie hat Bultmann unmittelbar im Auge -
heißt das, daß in ihr durch die evozierende Leseart das „aufgerufen“
werden muß, was in der Schriftlichkeit nur spurenhaft nachwirkt. Und
das ist nach Kierkegaards Theorem von dem „Gott incognito“ jener
„Leidenston“, der hörbar macht, daß dem Akt der Verschriftung eine
analoge Selbstverhüllung im Leben dessen voranging, der es als bitter-
sten Schmerz hinnehmen mußte, daß seine solidarisierende Erniedri-
66 Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik,
Tübingen 1972, 368.
67 Näheres dazu in meinem Jesusbuch ,Der Freund1, 48-61.
68 A.a.O., 64-69.
69 Dazu das Eingangskapitel seines Jesusbuchs (von 1926), München und Hamburg 1967,
7-15; ferner sein Aufsatz ,Zum Problem der Entmythologisierung1, in: Glauben und
Verstehen IV, Tübingen 1984, 128f.
Eugen Biser
„heilen“ und wie im Interesse des konfessorischen Redens gegen ihren
natürlichen Funktionssinn gewendet und als Medium der Selbstmittei-
lung gebraucht werden, wenn sie im Zweck des Informationstransfers
aufginge? Für die Schrift wäre dann allerdings die Zusatzannahme er-
forderlich, daß ihre Entwicklung im Zug der „symbolischen Selbstmit-
teilung“ des Menschen erfolgte und nicht nur aufgrund soziokultureller
Gegebenheiten. Dies angenommen ist sie im Vergleich zum lebendigen
Sprachvollzug zwar, mit Gadamer gesprochen, eine Form der „Selbst-
entfremdung“, dies jedoch ohne die Folge des völligen Identitätsver-
lustes, so daß in ihr durchaus Elemente der Mündlichkeit fortbeste-
hen.66
Im Fall der neutestamentlichen Schriften betreffen diese, wie Kierke-
gaard, Rahner und Käsemann aus unterschiedlichen Perspektiven sa-
hen, die sich in der Schriftlichkeit durchhaltenden Sprachimplikationen,
konkret gesprochen den ihr zugrundeliegenden „Leidenston“, die von
ihr ausgehende „Vergewisserung“ und das in ihr nachklingende „Macht-
wort“.67 Im Hinblick darauf könnte man die auf die Kompensation der
Textualität angesetzte Lesart auch als eine „akustische“ bezeichnen, so-
fern der Ausdruck nur dahin verstanden würde, daß diese Lektüre auf
eine Rückübersetzung des Textes in das Sprachvolumen der Mündlich-
keit abzielt.68
Als solche nimmt diese Lektüre unmittelbar auf den Chronikcha-
rakter aller Schriftlichkeit, gerade auch der biblischen, Bezug. Dabei
geht sie mit Bultmann davon aus, daß Geschichte keine Vergegenständ-
lichung duldet, sondern nur im Modus der Betroffenheit durch sie ange-
messen erfaßt werden kann.69 Auf die Dokumentation der Lebensge-
schichte Jesu bezogen - und sie hat Bultmann unmittelbar im Auge -
heißt das, daß in ihr durch die evozierende Leseart das „aufgerufen“
werden muß, was in der Schriftlichkeit nur spurenhaft nachwirkt. Und
das ist nach Kierkegaards Theorem von dem „Gott incognito“ jener
„Leidenston“, der hörbar macht, daß dem Akt der Verschriftung eine
analoge Selbstverhüllung im Leben dessen voranging, der es als bitter-
sten Schmerz hinnehmen mußte, daß seine solidarisierende Erniedri-
66 Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik,
Tübingen 1972, 368.
67 Näheres dazu in meinem Jesusbuch ,Der Freund1, 48-61.
68 A.a.O., 64-69.
69 Dazu das Eingangskapitel seines Jesusbuchs (von 1926), München und Hamburg 1967,
7-15; ferner sein Aufsatz ,Zum Problem der Entmythologisierung1, in: Glauben und
Verstehen IV, Tübingen 1984, 128f.