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Biser, Eugen; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1990, 1. Abhandlung): Die Bibel als Medium: zur medienkritischen Schlüsselposition der Theologie; vorgetragen am 27. Januar 1990 — Heidelberg: Winter, 1990

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https://doi.org/10.11588/diglit.48159#0039
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Die Bibel als Medium

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gung zum „Gott in Knechtsgestalt“ für viele zum entscheidenden Glau-
benshindernis werden mußte.70
Es ist nach Rahner sodann der von der Gestalt und Lebensleistung
Jesu ausgehende Impuls, der in den neutestamentlichen Schriften in der
Form nachwirkt, daß er ihre Verfasser zur konsequenten Suspendierung
der Gottesfrage veranlaßte, weil sie, im Bann des auf sie überströmen-
den Gottesbewußtseins Jesu, der Nötigung, nach Gott fragen zu müs-
sen, überhoben waren.71 Und es ist schließlich nach Käsemann das auf
dem Höhepunkt seines Abschiedsgebets ertönende „Ich will“ des johan-
neischen Christus, das als gebieterisches Machtwort „alles“ - und das
bezieht sich nicht nur auf den Kontext des Gebets, sondern auf das
gesamte, alle kanonischen Schriften einbegreifende „Evangelium“ -
überschattet.72
Damit gewinnt der kompensatorische Leseakt deutlicheres Profil. Es
ist der Akt eines Lesers, der sich beim Vernehmen des Leidenstons zu
der von Paulus geforderten Passionsgemeinschaft mit dem Bezeugten
aufgerufen fühlt; der Akt eines Lesers, der sich auf insinuativem Weg
zur Gottesgewißheit geführt sieht und zumal der Akt eines Lesers, der
sich durch das aus dem Text an ihn ergehende Machtwort zum ewigen
Wesensort seines Sprechers erhoben weiß. Indessen bliebe diese kom-
pensatorische Lesart allzu hypothetisch, wenn sie nicht wenigstens an
einem paradigmatischen Fall veranschaulicht werden könnte.
Das ist der Fall des Jesusbuchs „für Atheisten“, das Milan Machovec
im Zug der literarischen Bezeugungen der Neuentdeckung Jesu zu Be-
ginn der siebziger Jahre veröffentlichte und das einen seiner Höhe-
70 So schon Kierkegaards Gedanke von der mit Jesus einhergehenden „akustischen Täu-
schung“ (Philosophische Brocken, Kap. III, Beilage), vor allem aber seine Ausführun-
gen über das Ärgernis im Mittelteil seiner ,Einübung im Christentum1, wo er davon
ausgeht, daß Jesus im Gedanken an das durch seine Selbstverhüllung provozierte Är-
gernis der Kelch der menschlichen Leidensmöglichkeit auf eine zweite, noch ungleich
schrecklichere Weise gereicht werde; dazu Hayo Gerdes, Sören Kierkegaards Ein-
übung im Christentum1, Darmstadt 1982,24-39. Wenn man mit Kähler in den Evange-
lien ausgeweitete Passionsgeschichten erblickt und demgemäß davon ausgeht, daß der
in den „Vorgeschichten“ waltende Zwang zur Abbreviatur zuletzt zugunsten einer Syn-
chronie mit dem beschriebenen Geschehen zurücktritt, wird man den Leidenston nir-
gendwo so elementar wie im Todesschrei Jesu vernehmen und daraus auf die größte im
Neuen Testament jemals erreichte Annäherung an die Mündlichkeit zurückschließen.
71 Dazu der Abschnitt „Die Suspendierung der Gottesfrage. Erwägungen zu einer inno-
vatorischen These Karl Rahners“, in meinem Sammelband ,Glaubensimpulse1, 189-
207.
72 Dazu E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1980, 18.
 
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