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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 1. Abhandlung): Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen: is fecit cui prodest; vorgetragen am 21. April 1990 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48161#0044
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Wolfgang Raible

6. Weiterführende Schlußüberlegungen
Ich will versuchen, einige vorsichtige Generalisierungen aus diesen
Beobachtungen abzuleiten.
1. In einer ersten Phase gilt für Alphabetschriften (die nicht Konso-
nantenschriften sind) vorzugsweise die Devise: „Schreibe, wie du
sprichst.“ Dies bedeutet nicht nur eine relativ lautgetreue Wieder-
gabe, sondern automatisch auch Scriptio continua, weil man Wortab-
stände nicht als Pausen hört. Für die Anfänge der epigraphischen
Schriftlichkeit in Griechenland müssen wir freilich davon ausgehen,
daß - wegen des orientalischen Vorbildes, z. T. wohl auch wegen der
orientalischen Schreiber - zunächst die dort unabdingbare Signalisie-
rung von Wortgrenzen übernommen wird. Wegen der bestehenden
Praxis des lauten Lesens ist dies gewissermaßen noch ein Luxus. Dem
anfänglichen, orthographisch zu verstehenden Prinzip ,Schreibe, wie
du sprichst* verdanken wir unsere Kenntnis der altgriechischen Dia-
lekte ebenso wie die Kenntnis der altfranzösischen.46
2. In der Folgezeit der Entwicklung tritt die schreiberbezogene Devise
,Schreibe, wie du sprichst* mehr und mehr in den Hintergrund zugun-
sten einer rezipientenbezogenen Perspektive. Diese Perspektive
kann sich schon in der Entwicklung der Buchstaben-Formen zeigen,
die Herbert Ernst Brekle 1987 untersucht hat. Darüber hinaus kann
sie sich in verschiedener Weise äußern:
- Statt der lautlichen Abbildung eines bestimmten Dialekts kann es
zu einer sogenannten Flächen-Koine kommen, die den Kommuni-
kationsradius beträchtlich erweitert, die vom Schreibenden jedoch
Laut-Umsetzungen oder Laut-Anpassungen verlangt. Statt einer
Flächen-Koine kann sich auch die Scripta einer bestimmten Re-
gion für andere Regionen durchsetzen. In Nordfrankreich war dies
z.B. die Scripta der Pariser Region, die sich bald gegen andere
Scriptae durchgesetzt hat.47

zwischen Groß- und Kleinschreibung überschrieben ist mit: Des Lettres considerees
comme Caracteres.)
46 Es gibt aber auch von Anfang an die Möglichkeit einer Flächen-Koine. Vgl. zum Bei-
spiel des Päli v. Hinüber (1983) und v. Hinüber (1989).
47 Neben der Erweiterung des Kommunikationsradius hat diese Entwicklung einen Vor-
teil , den auch der heutige Leser noch - mittelbar - erfährt. Wer bei der Lektüre altfran-
zösischer Texte Wörterbücher konsultieren muß, stöhnt angesichts der Vielzahl der
Schreibungen, die in der Praxis vorkommen. Sind die Formen einmal „normiert", fällt
 
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