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Wolfgang Raible
6. Weiterführende Schlußüberlegungen
Ich will versuchen, einige vorsichtige Generalisierungen aus diesen
Beobachtungen abzuleiten.
1. In einer ersten Phase gilt für Alphabetschriften (die nicht Konso-
nantenschriften sind) vorzugsweise die Devise: „Schreibe, wie du
sprichst.“ Dies bedeutet nicht nur eine relativ lautgetreue Wieder-
gabe, sondern automatisch auch Scriptio continua, weil man Wortab-
stände nicht als Pausen hört. Für die Anfänge der epigraphischen
Schriftlichkeit in Griechenland müssen wir freilich davon ausgehen,
daß - wegen des orientalischen Vorbildes, z. T. wohl auch wegen der
orientalischen Schreiber - zunächst die dort unabdingbare Signalisie-
rung von Wortgrenzen übernommen wird. Wegen der bestehenden
Praxis des lauten Lesens ist dies gewissermaßen noch ein Luxus. Dem
anfänglichen, orthographisch zu verstehenden Prinzip ,Schreibe, wie
du sprichst* verdanken wir unsere Kenntnis der altgriechischen Dia-
lekte ebenso wie die Kenntnis der altfranzösischen.46
2. In der Folgezeit der Entwicklung tritt die schreiberbezogene Devise
,Schreibe, wie du sprichst* mehr und mehr in den Hintergrund zugun-
sten einer rezipientenbezogenen Perspektive. Diese Perspektive
kann sich schon in der Entwicklung der Buchstaben-Formen zeigen,
die Herbert Ernst Brekle 1987 untersucht hat. Darüber hinaus kann
sie sich in verschiedener Weise äußern:
- Statt der lautlichen Abbildung eines bestimmten Dialekts kann es
zu einer sogenannten Flächen-Koine kommen, die den Kommuni-
kationsradius beträchtlich erweitert, die vom Schreibenden jedoch
Laut-Umsetzungen oder Laut-Anpassungen verlangt. Statt einer
Flächen-Koine kann sich auch die Scripta einer bestimmten Re-
gion für andere Regionen durchsetzen. In Nordfrankreich war dies
z.B. die Scripta der Pariser Region, die sich bald gegen andere
Scriptae durchgesetzt hat.47
zwischen Groß- und Kleinschreibung überschrieben ist mit: Des Lettres considerees
comme Caracteres.)
46 Es gibt aber auch von Anfang an die Möglichkeit einer Flächen-Koine. Vgl. zum Bei-
spiel des Päli v. Hinüber (1983) und v. Hinüber (1989).
47 Neben der Erweiterung des Kommunikationsradius hat diese Entwicklung einen Vor-
teil , den auch der heutige Leser noch - mittelbar - erfährt. Wer bei der Lektüre altfran-
zösischer Texte Wörterbücher konsultieren muß, stöhnt angesichts der Vielzahl der
Schreibungen, die in der Praxis vorkommen. Sind die Formen einmal „normiert", fällt
Wolfgang Raible
6. Weiterführende Schlußüberlegungen
Ich will versuchen, einige vorsichtige Generalisierungen aus diesen
Beobachtungen abzuleiten.
1. In einer ersten Phase gilt für Alphabetschriften (die nicht Konso-
nantenschriften sind) vorzugsweise die Devise: „Schreibe, wie du
sprichst.“ Dies bedeutet nicht nur eine relativ lautgetreue Wieder-
gabe, sondern automatisch auch Scriptio continua, weil man Wortab-
stände nicht als Pausen hört. Für die Anfänge der epigraphischen
Schriftlichkeit in Griechenland müssen wir freilich davon ausgehen,
daß - wegen des orientalischen Vorbildes, z. T. wohl auch wegen der
orientalischen Schreiber - zunächst die dort unabdingbare Signalisie-
rung von Wortgrenzen übernommen wird. Wegen der bestehenden
Praxis des lauten Lesens ist dies gewissermaßen noch ein Luxus. Dem
anfänglichen, orthographisch zu verstehenden Prinzip ,Schreibe, wie
du sprichst* verdanken wir unsere Kenntnis der altgriechischen Dia-
lekte ebenso wie die Kenntnis der altfranzösischen.46
2. In der Folgezeit der Entwicklung tritt die schreiberbezogene Devise
,Schreibe, wie du sprichst* mehr und mehr in den Hintergrund zugun-
sten einer rezipientenbezogenen Perspektive. Diese Perspektive
kann sich schon in der Entwicklung der Buchstaben-Formen zeigen,
die Herbert Ernst Brekle 1987 untersucht hat. Darüber hinaus kann
sie sich in verschiedener Weise äußern:
- Statt der lautlichen Abbildung eines bestimmten Dialekts kann es
zu einer sogenannten Flächen-Koine kommen, die den Kommuni-
kationsradius beträchtlich erweitert, die vom Schreibenden jedoch
Laut-Umsetzungen oder Laut-Anpassungen verlangt. Statt einer
Flächen-Koine kann sich auch die Scripta einer bestimmten Re-
gion für andere Regionen durchsetzen. In Nordfrankreich war dies
z.B. die Scripta der Pariser Region, die sich bald gegen andere
Scriptae durchgesetzt hat.47
zwischen Groß- und Kleinschreibung überschrieben ist mit: Des Lettres considerees
comme Caracteres.)
46 Es gibt aber auch von Anfang an die Möglichkeit einer Flächen-Koine. Vgl. zum Bei-
spiel des Päli v. Hinüber (1983) und v. Hinüber (1989).
47 Neben der Erweiterung des Kommunikationsradius hat diese Entwicklung einen Vor-
teil , den auch der heutige Leser noch - mittelbar - erfährt. Wer bei der Lektüre altfran-
zösischer Texte Wörterbücher konsultieren muß, stöhnt angesichts der Vielzahl der
Schreibungen, die in der Praxis vorkommen. Sind die Formen einmal „normiert", fällt