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Wolfgang Raible
Medizin oder Physiologie erhalten. Klaus Sander hat 1958 als Pro-
movend mit eindrucksvollen Experimenten an einer Kleinzikade
gezeigt, daß, in heutiger Terminologie gesprochen, sehr hierarchie-
hohe Gene durch die Abnahme der Konzentration eines bestimm-
ten Stoffs (der seinerseits das Protein-Produkt eines noch hierar-
chiehöheren Gens ist) in der Längsachse der Oozyte aktiviert wer-
den dürften - also durch einen Gradienten71. Auch in der Biologie
gibt es freilich Trends, und mit einer Gradientenhypothese konnte
man auf dem in Rede stehenden Gebiet bis in die Mitte der 70er
Jahre, was den biologischen „mainstream“ angeht, nur Hohn und
Spott ernten. Mit den Entdeckungen der 80er Jahre wurde Sanders
Hypothese auf ganzer Linie bestätigt und, wie die Entdeckungen
Spemanns, in ihrer genetischen Grundlage voll verständlich72. Chri-
stiane Nüsslein-Volhard hat 1978, zusammen mit Eric Wieschaus,
damit begonnen, das Genom der Drosophila systematisch nach
Mutationen abzusuchen, die Auswirkungen auf die embryonale
Morphogenese haben. Sie hat dabei die Hierarchie - oder wie die
Biologen auch gelehrt sagen: die Epistasis - und das Zusammenwir-
ken, also die Interferenz entsprechender Gene ergründet. Über die
Bedeutung dieser Arbeiten für die Forschung war jüngst zu lesen,
sie sei unvergleichlich73.
71 Die Versuche sind resümiert in Lawrence 1992: 26-30, desgleichen in Arbeiten
von Lewis Wolpert.
72 Es ist vielleicht auch kein Zufall, daß Lewis Wolpert, der Anfang der 70er Jahre
die Gradientenhypothese wieder ins Gespräch und wohl auch zu größerer
Anerkennung brachte, von Hause aus gar kein Biologe, sondern ein Ingenieur
ist, der als Außenseiter erst nachträglich den Weg zur Biologie fand. Vgl. Lewis
Wolpert 1971. - Die Entwicklung derWolpertschen Konzeption ist gut zu verfol-
gen in den von Conrad H. Waddington herausgegebenen Sammelbänden von
Symposien über das Thema „Theoretische Biologie“. Vgl. Wolpert 1968, 1970,
1972; Wolpert beginnt dort mit einem Beispiel, bei dem die französische Flagge
als Ergebnis einer Zelldifferenzierung vorgestellt wird, die von einem Gradien-
ten gesteuert wird. Das Beispiel findet sich in vielen seiner Arbeiten wieder.
73 Bei Peter A. Lawrence (1992: 202) heißt es von der Arbeit von Christiane Nüss-
lein-Volhard und Eric Wieschaus: „Some readers will know the impact of their
work on the field, but others should realise that it has been incomparable“. An
derselben Stelle (S. 205f.) wird auch die Arbeit von Klaus Sander gewürdigt.
Wolfgang Raible
Medizin oder Physiologie erhalten. Klaus Sander hat 1958 als Pro-
movend mit eindrucksvollen Experimenten an einer Kleinzikade
gezeigt, daß, in heutiger Terminologie gesprochen, sehr hierarchie-
hohe Gene durch die Abnahme der Konzentration eines bestimm-
ten Stoffs (der seinerseits das Protein-Produkt eines noch hierar-
chiehöheren Gens ist) in der Längsachse der Oozyte aktiviert wer-
den dürften - also durch einen Gradienten71. Auch in der Biologie
gibt es freilich Trends, und mit einer Gradientenhypothese konnte
man auf dem in Rede stehenden Gebiet bis in die Mitte der 70er
Jahre, was den biologischen „mainstream“ angeht, nur Hohn und
Spott ernten. Mit den Entdeckungen der 80er Jahre wurde Sanders
Hypothese auf ganzer Linie bestätigt und, wie die Entdeckungen
Spemanns, in ihrer genetischen Grundlage voll verständlich72. Chri-
stiane Nüsslein-Volhard hat 1978, zusammen mit Eric Wieschaus,
damit begonnen, das Genom der Drosophila systematisch nach
Mutationen abzusuchen, die Auswirkungen auf die embryonale
Morphogenese haben. Sie hat dabei die Hierarchie - oder wie die
Biologen auch gelehrt sagen: die Epistasis - und das Zusammenwir-
ken, also die Interferenz entsprechender Gene ergründet. Über die
Bedeutung dieser Arbeiten für die Forschung war jüngst zu lesen,
sie sei unvergleichlich73.
71 Die Versuche sind resümiert in Lawrence 1992: 26-30, desgleichen in Arbeiten
von Lewis Wolpert.
72 Es ist vielleicht auch kein Zufall, daß Lewis Wolpert, der Anfang der 70er Jahre
die Gradientenhypothese wieder ins Gespräch und wohl auch zu größerer
Anerkennung brachte, von Hause aus gar kein Biologe, sondern ein Ingenieur
ist, der als Außenseiter erst nachträglich den Weg zur Biologie fand. Vgl. Lewis
Wolpert 1971. - Die Entwicklung derWolpertschen Konzeption ist gut zu verfol-
gen in den von Conrad H. Waddington herausgegebenen Sammelbänden von
Symposien über das Thema „Theoretische Biologie“. Vgl. Wolpert 1968, 1970,
1972; Wolpert beginnt dort mit einem Beispiel, bei dem die französische Flagge
als Ergebnis einer Zelldifferenzierung vorgestellt wird, die von einem Gradien-
ten gesteuert wird. Das Beispiel findet sich in vielen seiner Arbeiten wieder.
73 Bei Peter A. Lawrence (1992: 202) heißt es von der Arbeit von Christiane Nüss-
lein-Volhard und Eric Wieschaus: „Some readers will know the impact of their
work on the field, but others should realise that it has been incomparable“. An
derselben Stelle (S. 205f.) wird auch die Arbeit von Klaus Sander gewürdigt.