I
Im zweiten Stück seiner „Unzeitgemässen Betrachtungen“ dis-
kutiert Friedrich Nietzsche das schwierige Verhältnis von Erinnern
und Vergessen im Leben der Menschen. Er wählt dafür den Ver-
gleich von Mensch und Tier. Das Tier, so Nietzsche, sei an den
„Pflock des Augenblickes“ gebunden.1 Es lebe unhistorisch und
darin glücklich, denn es sei vom Zwang des Sich-Erinnerns frei. Der
Mensch dagegen könne nicht einfach vergessen und müsse sich an
Vergangenes binden. Er lebe historisch, sei zur Geschichte
gezwungen, und dies sei für ihn von Nutzen und Nachteil zugleich.
Es sei von Nutzen, weil die Bindung an Vergangenes es ihm
erlaube, über die Gegenwart hinaus in die Zukunft zu blicken; es
sei von Nachteil, denn zu allem Handeln gehöre Vergessen, weil
der Handelnde nicht nur mit Goethe gewissenlos, sondern auch
wissenlos sei.2 Wo der Mut, unhistorisch zu sein, gänzlich fehle,
könne das Vergangene schnell „zum Todtengräber des Gegenwärti-
gen“ werden. Es gebe einen historischen Sinn, der zu Handlungs-
unfähigkeit führe. Je größer freilich die plastische Kraft der Men-
schen, der Völker oder der Kulturen, desto größer auch ihre Fähig-
keit, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und
Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen,
Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzufor-
men.“3
In Urmensch und Spätkultur diskutiert Arnold Gehlen das schwie-
rige Verhältnis von Spontaneität und Dauer im Leben der Men-
schen. Auch er wählt dafür den Vergleich von Mensch und Tier.
Das tierische Verhalten sei weitgehend instinktgestützt und
umweltgebunden. Beim menschlichen Handeln, in Sonderheit
beim sozialen Handeln, falle dagegen Instinktbindung weitgehend
aus. Der Mensch sei im Unterschied zum Tier im Kern ein „instinkt-
entbundenes, dabei aber antriebsüberschüssiges, umweltbefreites
1 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden,
hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 1, München 1980, S. 248.
2 Ebd., S. 254.
3 Ebd., S. 251.
Im zweiten Stück seiner „Unzeitgemässen Betrachtungen“ dis-
kutiert Friedrich Nietzsche das schwierige Verhältnis von Erinnern
und Vergessen im Leben der Menschen. Er wählt dafür den Ver-
gleich von Mensch und Tier. Das Tier, so Nietzsche, sei an den
„Pflock des Augenblickes“ gebunden.1 Es lebe unhistorisch und
darin glücklich, denn es sei vom Zwang des Sich-Erinnerns frei. Der
Mensch dagegen könne nicht einfach vergessen und müsse sich an
Vergangenes binden. Er lebe historisch, sei zur Geschichte
gezwungen, und dies sei für ihn von Nutzen und Nachteil zugleich.
Es sei von Nutzen, weil die Bindung an Vergangenes es ihm
erlaube, über die Gegenwart hinaus in die Zukunft zu blicken; es
sei von Nachteil, denn zu allem Handeln gehöre Vergessen, weil
der Handelnde nicht nur mit Goethe gewissenlos, sondern auch
wissenlos sei.2 Wo der Mut, unhistorisch zu sein, gänzlich fehle,
könne das Vergangene schnell „zum Todtengräber des Gegenwärti-
gen“ werden. Es gebe einen historischen Sinn, der zu Handlungs-
unfähigkeit führe. Je größer freilich die plastische Kraft der Men-
schen, der Völker oder der Kulturen, desto größer auch ihre Fähig-
keit, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und
Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen,
Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzufor-
men.“3
In Urmensch und Spätkultur diskutiert Arnold Gehlen das schwie-
rige Verhältnis von Spontaneität und Dauer im Leben der Men-
schen. Auch er wählt dafür den Vergleich von Mensch und Tier.
Das tierische Verhalten sei weitgehend instinktgestützt und
umweltgebunden. Beim menschlichen Handeln, in Sonderheit
beim sozialen Handeln, falle dagegen Instinktbindung weitgehend
aus. Der Mensch sei im Unterschied zum Tier im Kern ein „instinkt-
entbundenes, dabei aber antriebsüberschüssiges, umweltbefreites
1 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden,
hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 1, München 1980, S. 248.
2 Ebd., S. 254.
3 Ebd., S. 251.