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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0011
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

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und des Rechts mit ihren Forderungen, es gelte die republikanische
Verfassung und den ewigen Frieden zu erstreiten, „das ganze
elende Menschenwerk von Staat, Verfaßung, Regierung, Gesetzge-
bung - bis auf die Haut entblösen.“ Er will dies von einer höheren
Idee aus tun, die er, wohl Hölderlin folgend, Schönheit nennt. Nur
durch sie könne die im dreigliedrigen System Kants erstarrte Ver-
nunft verlebendigt werden. Nur durch sie lasse sie sich poetisieren,
ja mythologisieren und dadurch versinnlichen. Dann allerdings
könne sie endlich das Volk, man ist versucht zu sagen: die Massen,
ergreifen, dann wäre die „ewige Einheit“ von Volk und Philosophen
erreicht: „Nim[m]er der verachtende Blik, nim[m]er das blinde Zit-
tern des Volks vor seinen Weisen u[nd] Priestern. dan[n] erst erwar-
tet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als
aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrükt werden, dan[n]
herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!“8.
Es war ein langer Weg von diesem ältesten Systemprogramm,
das uns den Staat als etwas Mechanisches, als etwas Apparathaftes
vorstellt, das abgeschafft werden müsse, zum ausgearbeiteten
System, in dem zumindest der moderne Staat als die Wirklichkeit
der sittlichen Idee figuriert. Zwar scheint auch aus ihm das Mecha-
nische und Apparathafte nicht gänzlich verschwunden. Denn
Hegel bestimmt ihn gegen die Sphären des Privatrechts und des Pri-
vatwohls, der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft, als eine
äußerliche Notwendigkeit und eine höhere Macht. Aber er ist jetzt
zugleich deren immanenter Zweck geworden und damit die institu-
tionelle Verkörperung der Idee der Freiheit, die überhaupt erst
durch ihn konkret werden kann. Konkret aber heißt, daß, wie Hegel
dies in §260 seiner Rechtsphilosophie formuliert, „die persönliche
Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollstän-
dige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im
Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als
8 Mythologie der Vernunft. Hegels ‘ältestes Systemprogramm’ des deutschen
Idealismus, hrsg. von Christoph Jamme und Helmut Schneider, Frankfurt
1984, S. 11 ff. Franz Rosenzweig, der das Manuskript fand und es in der Heidel-
berger Akademie vorstellte (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der
Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1917, Abhandl. 5) rech-
nete es Schelling zu. Später wurde es Hölderlin zugeschrieben. Die neuere Dis-
kussion stieß Otto Pöggeler an („Hegel, der Verfasser des ältesten System-
programms des deutschen Idealismus“, in: Hegel-Studien, Beiheft 4, Bonn
1968).
 
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