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Wolfgang Schluchter
aufzugeben. Die menschliche Emanzipation, so Marx in seinen
Betrachtungen zur Judenfrage, verlange mehr als die geistige Ver-
mittlung von in Wirklichkeit sich wechselseitig beschränkenden
Sphären, sie verlange vielmehr die reale Aufhebung der Trennung
von bürgerlicher Gesellschaft und modernem Staat. Denn solange
diese Trennung bestehe, bleibe der Mensch in sich gespalten, zer-
falle er in den egoistischen Wirtschaftsbürger, den bourgeois, und
den moralischen Staats- und Weltbürger, den citoyen und hom-
me.13 Wie immer bürgerliche Gesellschaft und moderner Staat
institutionell auch verfaßt seien, solange die Trennung bestehe,
finde jeder Mensch „im anderen Menschen nicht die Verwirkli-
chung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit“.14 Hegel, so
kann man die Hegelkritik des jungen Marx auch interpretieren,
habe Kant zwar im Gedanken überwunden. Doch was er in seiner
Rechtsphilosophie letztlich predigte, sei - außer preußischer Staats-
apologie - Fleisch gewordener Kantianismus, nämlich soziale Bin-
dung als Beschränkung individueller Freiheit, nicht als deren
Ermöglichung und Verwirklichung. Was der junge Hegel dem alten
Kant entgegenhielt, daß jeder Staat den freien Menschen instru-
mentalisiere und daß der Staat deshalb aufhören solle, hält nun der
junge Marx, wenn auch in anderen Worten, dem alten Hegel entge-
gen. Marx folgt dabei freilich einer im Vergleich mit dem jungen
Hegel anderen höheren Idee. Er folgt der von Feuerbach inspirier-
ten Idee vom Menschen als einem sinnlichen, leidenden und des-
halb leidenschaftlichen, auf Liebe angelegten Wesen, er folgt der
von Hegels Phänomenologie inspirierten Idee des auf Versöhnung
angelegten tätigen Menschen, der sich vom Tier durch sein Vermö-
gen unterscheidet, sein sinnliches und geistiges Leben bewußt, frei
und universell zu produzieren und zu reproduzieren, vom Men-
schen als einem historischen Gattungswesen, das sich durch seine
Lebenstätigkeit, die immerzugleich ein Naturverhältnis, ein Sozial-
verhältnis und ein Kulturverhältnis einschließt, erst noch zu dem
machen muß, was es seiner Möglichkeit nach ist.
Es wäre reizvoll, die Gründe zu untersuchen, aus denen Marx,
ähnlich wie Hegel, im Laufe seiner Entwicklung vom romantisch
gefärbten Antiinstitutionalisten zum extremen Institutionalisten, ja
Strukturdeterministen wurde. Das führte hier zu weit. Wichtig ist
13 Marx, Band I, S. 479.
14 Ebd.
Wolfgang Schluchter
aufzugeben. Die menschliche Emanzipation, so Marx in seinen
Betrachtungen zur Judenfrage, verlange mehr als die geistige Ver-
mittlung von in Wirklichkeit sich wechselseitig beschränkenden
Sphären, sie verlange vielmehr die reale Aufhebung der Trennung
von bürgerlicher Gesellschaft und modernem Staat. Denn solange
diese Trennung bestehe, bleibe der Mensch in sich gespalten, zer-
falle er in den egoistischen Wirtschaftsbürger, den bourgeois, und
den moralischen Staats- und Weltbürger, den citoyen und hom-
me.13 Wie immer bürgerliche Gesellschaft und moderner Staat
institutionell auch verfaßt seien, solange die Trennung bestehe,
finde jeder Mensch „im anderen Menschen nicht die Verwirkli-
chung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit“.14 Hegel, so
kann man die Hegelkritik des jungen Marx auch interpretieren,
habe Kant zwar im Gedanken überwunden. Doch was er in seiner
Rechtsphilosophie letztlich predigte, sei - außer preußischer Staats-
apologie - Fleisch gewordener Kantianismus, nämlich soziale Bin-
dung als Beschränkung individueller Freiheit, nicht als deren
Ermöglichung und Verwirklichung. Was der junge Hegel dem alten
Kant entgegenhielt, daß jeder Staat den freien Menschen instru-
mentalisiere und daß der Staat deshalb aufhören solle, hält nun der
junge Marx, wenn auch in anderen Worten, dem alten Hegel entge-
gen. Marx folgt dabei freilich einer im Vergleich mit dem jungen
Hegel anderen höheren Idee. Er folgt der von Feuerbach inspirier-
ten Idee vom Menschen als einem sinnlichen, leidenden und des-
halb leidenschaftlichen, auf Liebe angelegten Wesen, er folgt der
von Hegels Phänomenologie inspirierten Idee des auf Versöhnung
angelegten tätigen Menschen, der sich vom Tier durch sein Vermö-
gen unterscheidet, sein sinnliches und geistiges Leben bewußt, frei
und universell zu produzieren und zu reproduzieren, vom Men-
schen als einem historischen Gattungswesen, das sich durch seine
Lebenstätigkeit, die immerzugleich ein Naturverhältnis, ein Sozial-
verhältnis und ein Kulturverhältnis einschließt, erst noch zu dem
machen muß, was es seiner Möglichkeit nach ist.
Es wäre reizvoll, die Gründe zu untersuchen, aus denen Marx,
ähnlich wie Hegel, im Laufe seiner Entwicklung vom romantisch
gefärbten Antiinstitutionalisten zum extremen Institutionalisten, ja
Strukturdeterministen wurde. Das führte hier zu weit. Wichtig ist
13 Marx, Band I, S. 479.
14 Ebd.