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Schluchter, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 2. Abhandlung): Individuelle Freiheit und soziale Bindung: vom Nutzen und Nachteil der Institutionen für den Menschen; vorgetragen am 16. Januar 1993 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48171#0015
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Individuelle Freiheit und soziale Bindung

13

mir aber die Feststellung, daß Marx, wie auch Hegel, Zeit seines
Lebens das Versöhnungsmodell seiner Jugend vorschwebte. Trotz
seines Insistierens auf immanenter Kritik, trotz seines Antiutopis-
mus, blieb es in meiner Sicht das Gegenbild zur immer tiefer analy-
sierten und radikaler verworfenen Wirklichkeit. Der junge Marx
antizipiert eine Lebensform, die, weil organische Totalität, nicht
mehr dazu zwingt, die individuelle Freiheit, wie noch in der bürger-
lichen Gesellschaft, von außen zu beschränken. In ihr stehen indivi-
duelle Freiheit und soziale Bindung nicht mehr im Widerspruch,
sondern ermöglichen und verstärken sich. Marx nennt diese organi-
sche Totalität Kommunismus. Dieser ist ihm vollendeter Naturalis-
mus und vollendeter Humanismus zugleich. Er ist ihm die „wahr-
hafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der
Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwi-
schen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und
Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen
Individuum und Gattung.“ Er ist ihm „das aufgelöste Rätsel der
Geschichte“13 - und zugleich das Ende dieser Geschichte selbst.
Hegel und Marx sind sich bei aller Unterschiedlichkeit am Ende
doch darin einig, daß die Kantische These falsch ist, auf dieser
unvollkommenen Welt mit ihren fehlbaren Menschen könne es
trotz Aufklärung keinen Zustand nichtbeschränkter Freiheit geben.
Die von Kant vertretene Vorstellung, „worin ‘die Beschränkung
meiner Freiheit oder Willkür, daß sie mit jedermanns Willkür nach
einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne’“, das
„Hauptmoment“ des Rechtsbegriffs abgebe und daß der freie Wille
„nicht als an und für sich seiender, vernünftiger, der Geist nicht als
wahrer Geist, sondern als besonderes Individuum, als Wille des Ein-
zelnen in seiner eigentümlichen Willkür, die substantielle Grund-
lage und das Erste“, also der wahre Ausgangspunkt der Freiheits-
frage sein solle, kann für Hegel nicht das letzte Wort sein15 16 - und
Marx stimmt ihm zumindest darin zu. Wie man freilich zu jener
organischen Totalität mit ihrer entgrenzten Freiheit kommt, dies
wird von beiden verschieden beantwortet. Für den Hegel der veröf-
fentlichten Rechtsphilosophie ist das Vernünftige bereits wirklich
und das Wirkliche bereits vernünftig17, für Marx muß das Vernünf-

15 Ebd., S. 593f.
16 Hegel, Band 7, S. 80f. (§ 29). Hegel erweitert seine Kritik auf Rousseau.
17 In einer Vorlesung, die der Veröffentlichung vorausging, formulierte Hegel
bekanntlich vorsichtiger. Dort heißt es nicht, das Vernünftige sei wirklich, son-
 
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