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Fuhrmann, Manfred; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1994, 4. Abhandlung): Alexander von Roes - ein Wegbereiter des Europagedankens?: vorgetragen am 16. Februar 1991 — Heidelberg: Winter, 1994

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https://doi.org/10.11588/diglit.48173#0020
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Manfred Fuhrmann

System der drei Erdteile bezogen, und so identifizierte man die
Nachkommen Sems, die Semiten, mit den Bewohnern Asiens, die
Nachkommen Harns, die Hamiten, mit den Bewohnern Afrikas
und die Nachkommen Japheths mit den Bewohnern Europas.34
Herausragende Katastrophen oder Gefahrensituationen, ins-
besondere der Angriff eines außereuropäischen Feindes, konnten
ein plötzliches Auflodern eines europäischen Gemeinschafts-
gefühls verursachen. Derlei spontane, unprogrammatische, nach
überstandener Gefahr alsbald wieder verstummende Europa-
Bekenntnisse haben ein Analogon in der spätantiken Romidee:
auch der Name Roms wurde gerade nach Katastrophen mit
beschwörender Eindringlichkeit ausgesprochen.35 Die Ähnlichkeit
beschränkt sich allerdings auf die emphatische Verwendung der
beiden Namen selbst: der jungen Kategorie Europa fehlten der
Ewigkeitsglaube und alle übrigen Verheißungen, die sich mit dem
alten, rückwärts gewandten Rom-Begriff verbunden hatten.
Die ältesten Beispiele einer durch Katastrophen bedingten,
emotional gefärbten Verwendung des Europa-Namens sind aus
den Abgründen der Völkerwanderungszeit hervorgegangen. Der
frühmittelalterliche Europagedanke trat als Ausdruck für eine Lei-
densgemeinschaft ans Licht: da der Völkersturm zunächst nicht
nur das Westreich, sondern auch den Balkan, den nördlich des
Mittelmeers gelegenen Teil des Ostreichs, heimsuchte, konnte
man keinen passenderen Ausdruck wählen, wenn man das Kata-
strophengebiet mit einem Wort umgreifen wollte. Europa ist die
Beute und der Spielball der westgotischen Horden und ihr Anfüh-
rer Alarich ein Feind Europas: so die Kommentare, mit denen der
Dichter Claudian Ereignisse um das Jahr 400 begleitete.36 Entspre-
chend schreibt Isidor, indem er alle Züge und Siege der Westgoten
lapidar zusammenfaßt: Hos Europae omnes tremuere gentes - „Vor
ihnen erzitterten alle Völker Europas.“37 Nach den Westgoten wur-
34 Die Nachkommen der Noah-Söhne: 1. Mose 10. Identifikation mit den Bewoh-
nern der drei Erdteile: Historia Britonum (7. Jahrhundert), in MGH, AA Bd. 13,
Chronica minora 3, ed. Th. Mommsen, Berlin 1898, p. 159; Vorstufen bei Sulpi-
cius Severus, Historia sacra, PL 20, p. 97, und Isidor, Etymologiae 9,2,37.
35 S. z.B. Ammianus Marcellinus 31,5,10-16. Vgl. hierzu M. Fuhrmann, „Die
Romidee der Spätantike“, in Brechungen - Wirkungsgeschichtliche Studien zur
antik-europäischen Bildungstradition, Stuttgart 1982, S. 88ff.
36 In Rufinum 2,36ff.; De sexto consulatu Honorii 103ff.
37 Historia Gothorum, in MGH, AA Bd. 11, Chronica minora 2, ed. Th. Mommsen,
Berlin 1894, p. 294.
 
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