26
Manfred Fuhrmann
nen.57 Durch sie bekundet sich jene neue, von der antiken und
frühmittelalterlichen Tradition abweichende Art, die europäischen
Angelegenheiten in den Blick zu nehmen, zum ersten Male; sie
suchen dem Auseinanderstreben der politischen Kräfte Europas
Einhalt zu gebieten, indem sie an das den Europäern Gemeinsame,
an ihre Staatlichkeit, ihr Christentum, ihre Kultur erinnern, und sie
tun dies unter ausdrücklicher Verwendung des Europa-Namens.58
Das zuletzt genannte Faktum ist vor allem deshalb hervorhebens-
wert, weil es sich in einer Umgebung, die sich an anderen Leit-
begriffen orientierte,59 wie ein erratischer Block ausnimmt: Alex-
anders Traktate beriefen sich zu einer Zeit auf Europa, in der sich
sonst niemand darauf berief;60 sie sind, was den Europa-Namen
angeht, von ihren Vorgängern und Nachfolgern jeweils durch Jahr-
hunderte getrennt.
Sie wurden durch eine Krisensituation hervorgerufen, ein
Merkmal, in das sie sich mit vielen Entwürfen und Appellen ähn-
licher Art teilen: immer wieder hat eine mehr oder minder schwere
Bedrohung oder Erschütterung des Bestehenden Anlaß dazu gege-
ben, daß sich führende Köpfe um eines gemeinsamen Zieles willen
an die Öffentlichkeit wandten. Die Krise, die Alexander dazu
drängte, als Publizist hervorzutreten, war von fundamentaler Art,
die Krise des Mittelalters schlechthin: der Beginn des Niedergangs
der universalen Mächte Kaisertum und Papsttum, der Beginn des
Weges zu einem gänzlich anderen Europa, einem Europa der
Nationalstaaten und Territorialherren. Die Krise währte lange, sie
wuchs sich zu einer ganzen Epoche des Übergangs aus, und Alex-
ander von Roes war zwar der früheste, keineswegs aber der einzige
mahnende und Vorschläge unterbreitende Publizist seiner Zeit:
57 Text: Alexander von Roes, Schriften, MGH, Staatsschriften des späten Mittel-
alters 1, ed. H. Grundmann - H. Heimpel, Stuttgart 1958 (mit ausführlicher
Einführung in Leben und Werk).
58 Von den bisherigen Darstellungen der Geschichte des Europagedankens nicht
beachtet: lediglich Gollwitzer, a.a.O. (Anm. 3), S. 35, hat Alexander in seinem
kurzen Überblick über die spätmittelalterliche Publizistik einer Erwähnung
gewürdigt.
59 S. u. S. 35ff.
60 In den Schriften des Pierre Dubois, Engelberts von Admont, Konrads von
Megenberg und Lupolds von Bebenburg kommt Europa nicht vor. Dantes
Schrift De monarchia befaßt sich mit dem gesamten orbis', der Europa-Name
findet sich nur neben Asien und Afrika, in einer Argumentation, die darzutun
sucht, daß alle drei Erdteile zur nobilitas des Aeneas, des Stammvaters der
Römer, beigetragen hätten (2,3).
Manfred Fuhrmann
nen.57 Durch sie bekundet sich jene neue, von der antiken und
frühmittelalterlichen Tradition abweichende Art, die europäischen
Angelegenheiten in den Blick zu nehmen, zum ersten Male; sie
suchen dem Auseinanderstreben der politischen Kräfte Europas
Einhalt zu gebieten, indem sie an das den Europäern Gemeinsame,
an ihre Staatlichkeit, ihr Christentum, ihre Kultur erinnern, und sie
tun dies unter ausdrücklicher Verwendung des Europa-Namens.58
Das zuletzt genannte Faktum ist vor allem deshalb hervorhebens-
wert, weil es sich in einer Umgebung, die sich an anderen Leit-
begriffen orientierte,59 wie ein erratischer Block ausnimmt: Alex-
anders Traktate beriefen sich zu einer Zeit auf Europa, in der sich
sonst niemand darauf berief;60 sie sind, was den Europa-Namen
angeht, von ihren Vorgängern und Nachfolgern jeweils durch Jahr-
hunderte getrennt.
Sie wurden durch eine Krisensituation hervorgerufen, ein
Merkmal, in das sie sich mit vielen Entwürfen und Appellen ähn-
licher Art teilen: immer wieder hat eine mehr oder minder schwere
Bedrohung oder Erschütterung des Bestehenden Anlaß dazu gege-
ben, daß sich führende Köpfe um eines gemeinsamen Zieles willen
an die Öffentlichkeit wandten. Die Krise, die Alexander dazu
drängte, als Publizist hervorzutreten, war von fundamentaler Art,
die Krise des Mittelalters schlechthin: der Beginn des Niedergangs
der universalen Mächte Kaisertum und Papsttum, der Beginn des
Weges zu einem gänzlich anderen Europa, einem Europa der
Nationalstaaten und Territorialherren. Die Krise währte lange, sie
wuchs sich zu einer ganzen Epoche des Übergangs aus, und Alex-
ander von Roes war zwar der früheste, keineswegs aber der einzige
mahnende und Vorschläge unterbreitende Publizist seiner Zeit:
57 Text: Alexander von Roes, Schriften, MGH, Staatsschriften des späten Mittel-
alters 1, ed. H. Grundmann - H. Heimpel, Stuttgart 1958 (mit ausführlicher
Einführung in Leben und Werk).
58 Von den bisherigen Darstellungen der Geschichte des Europagedankens nicht
beachtet: lediglich Gollwitzer, a.a.O. (Anm. 3), S. 35, hat Alexander in seinem
kurzen Überblick über die spätmittelalterliche Publizistik einer Erwähnung
gewürdigt.
59 S. u. S. 35ff.
60 In den Schriften des Pierre Dubois, Engelberts von Admont, Konrads von
Megenberg und Lupolds von Bebenburg kommt Europa nicht vor. Dantes
Schrift De monarchia befaßt sich mit dem gesamten orbis', der Europa-Name
findet sich nur neben Asien und Afrika, in einer Argumentation, die darzutun
sucht, daß alle drei Erdteile zur nobilitas des Aeneas, des Stammvaters der
Römer, beigetragen hätten (2,3).