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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Dörner, Gerald [Bearb.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (20. Band = Elsass, 2. Teilband): Die Territorien und Reichsstädte (außer Straßburg) — Tübingen: Mohr Siebeck, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.30662#0498
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Colmar

Dabei hebt er besonders die vertragliche Bindung des Kaisers an die Bestimmungen des Religionsfriedens
hervor. Der Stadt räumt er ein Widerspruchsrecht gegen kaiserliche Mandate ein, wobei er zum einen mit
dem biblischen Befehl, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen, zum anderen mit der
Verpflichtung, daß obrigkeitliche Weisungen der Hl. Schrift konform sein müßten, argumentiert60.
Nervius’ Empfehlung folgend handelten Rat und Magistrat äußerst schnell: Nur sieben Tage nach der
Übersendung des Gutachtens, am Samstag, dem 14. Mai 1575, beschloß das städtische Regiment unter dem
Vorsitz des Obristmeisters Hans Goll die Freistellung des evangelischen Glaubens in Colmar und die Ein-
richtung eines evangelischen Gottesdienstes in der ehemaligen Franziskanerkirche. Am nächsten Morgen
wurden die zehn Zünfte in aller Frühe um 5 Uhr auf ihren Stuben zusammengerufen und vom Stadt-
schreiber über die Entscheidung informiert. Um 8 Uhr hielt dann der Pfarrer des nahegelegenen Dorfes
Jebsheim, Johannes Keller (Cellarius), den ersten evangelischen Gottesdienst in der Franziskanerkir-
che61. Am Tag nach dem Gottesdienst unterrichtete der Rat Johannes Nervius über seinen Schritt62. Kaum
eine Woche später besaß aber auch die österreichische Regierung in Ensisheim bereits Kenntnis von den
Vorgängen in Colmar. In einem auf den 26. Mai datierten Brief bat sie den Oberlandvogt Erzherzog Fer-
dinand II., sich mit dem Kaiser in Verbindung zu setzen, damit unverzüglich eine kaiserliche Kommission
nach Colmar entsandt würde, die den Ratsherren die ohnversenliche verenderung der religion [...] verweisen,
auch mit inen ernstlich handlen und mit allerhand hiezu dienstlichen und nothwendigen persuasionen und
beweglichen argumenten sie dahin weisen [...] sollen, das sie den new aujgestellten predicanten strackhs und den
nechsten wider abschaffen, auch einiche newerung noch enderung der religion nit einschleichen lassen63.
Im Dezember 1575 kamen im Auftrag des Oberlandvogtes und des Basler Bischofs zwei kaiserliche
Kommissare nach Colmar und forderten von der städtischen Führung die umgehende Abschaffung der
evangelischen Religion. Aber weder diese noch eine weitere im August 1577 entsandte Kommission konnten
die Ratsherren dazu bewegen, ihre Entscheidung vom 14. Mai 1575 zurückzunehmen64.

60 In seinem Gutachten greift Nervius zur Unterstützung
seiner Argumentation vor allem auf die Werke italieni-
scher Juristen der sogenannten Kommentatorenzeit
zurück. Die Zeit der Kommentatoren (oder auch Kon-
siliatoren) wird gewöhnlich von der Mitte des 13. bis
zum Beginn des 16. Jh. angesetzt; ihre Hauptvertreter
sind Bartolo da Sassoferrato und Baldo degli Ubaldi;
letzterer ist mehrfach im Gutachten genannt (vgl.
Coing, Handbuch Privatrechtsgeschichte 1, S. 261f). In
der Kommentatorenzeit bildeten sich die wichtigsten
Gattungen der modernen Rechtsliteratur heraus (ebd.,
S. 315). Zu diesen gehören auch die von Nervius bevor-
zugt zitierten Konsilien. Beim consilium, das wie die
quaestio der sogenannten „Entscheidungsliteratur“ (im
Unterschied zur „exegetischen Literatur“) zugerechnet
wird, handelt es sich um das Gutachten eines Juristen zu
einer Rechtsfrage (ebd., S. 336-340). Konsilien wurden
in der Kommentatorenzeit massenhaft produziert (Sa-
vigny, Geschichte 6, S. 470 spricht von einer „beinahe
fabrikartigen“ Produktion. Allein von Baldo degli
Ubaldi sind fast 2.500 Konsilien überliefert). Sammlun-
gen solcher Konsilien der italienischen Vertreter der
Kommentatorenschule erschienen im Laufe des 16. Jh.
in zahlreichen Druckausgaben, außerhalb Italiens bevor-
zugt in Lyon und in Frankfurt a. M. (vgl. Guido

Kisch, Consilia. Eine Bibliographie der juristischen
Konsiliensammlungen, Basel, Stuttgart 1970).
61 Vgl. den bei Lebeau / Valentin, Alsace, S. 179 abge-
druckten Ausschnitt aus einer anonymen Chronik von
1579 mit einer Darstellung des Ablaufs der Ereignisse
vom 15. Mai 1575. In einer 1590 gedruckten Schrift erin-
nerte der Diakon David Hiemeyer an den ersten Gottes-
dienst: Ernewerung der Kirchen bey den Barfüssern im
Spital der Hochlöblichen Reichsstatt Colmar, die noch
vor 16 Jaren dem abgesagten feinde Gottes und seiner
Kirchen, dem Teufel selbst, durch seine Baalitische Meß-
pfaffen, die verfluchten Franciscaner, Barfusser ordens,
gedienet, jetzund aber durch sondere gnade Gottes, des
Allmechtigen, zum rechten brauch gebracht unnd zu eim
solchen ort den 15. tag May Anno 1575 eingeweyhet
worden, in welchem man an statt der vorigen abschew-
lichen mißbreuch das lautere und unverfelschte wort
Gottes in die zarte hertzen der zuhörer einbildet, Straß-
burg: Nicolaus Sylvanus 1590.
62 AM Colmar GG 151, Nr. 32.
63 Der Brief ist ediert in Lebeau / Valentin, Alsace,
S. 176-178 (das Zitat steht auf S. 177).
64 Vgl. Lerse, Geschichte, S. 15; Adam, Kirchenge-
schichte Elsaß, S. 474.

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