Einleitung
Bezüglich des Artikels 15 des Religionsfriedens wollte der Kaiser den verstand solcher Constitution nicht
disputirn, sondern dieselbige in ihrem werth bleiben lassen52. Die Unentschlossenheit des Kaisers verstand die
Colmarer Führung als Ermutigung53; trotzdem suchte sie sich vor der Einführung der Reformation zusätz-
lich noch durch ein Rechtsgutachten abzusichern.
Wie die Kollegen in Münster und in Hagenau wandten sich die Colmarer Ratsherren dabei hilfesuchend
an die Reichsstadt Straßburg. In einem Schreiben vom April 1575 baten sie den Straßburger Syndikus
Johannes Nervius (Nerv) um eine Stellungnahme zu zwei Fragen: 1. Obe meine herren nit befugt, die pfaffen
dahin zu vermogen, das sie die new angenhommen schirm [Habsburgs] wider auffkhundeten unnd meiner herren
schirm sich bewegen liessen oder gar von meinen herren hinweg ziehen unnd auch meiner herren schirm verlassen
muessen. 2. Die weil die pfaffen [...] sich so ergerlich, auch gotslesterlich inn leer unnd leben halten, mit was
fugen meinen herren ein gelehrten mann, der die warheit predigte unnd Augspurgischer Conjession gemess
bekennen, anstellen [...] mochten und [...] sich dessen gegen der kaiserlichen majestät, wo sie darumb angerathen,
zu entschuldigen54. Johannes Nervius, ein Neffe des Humanisten Konrad Heresbach, der nicht nur für die
Stadt Straßburg, sondern auch als Assessor am Reichskammergericht tätig war, und in dieser Doppelfunk-
tion einen idealen Ansprechpartner für den Rat bildete55, sandte sein Gutachten am 7. Mai zusammen mit
einem Begleitschreiben nach Colmar56.
In seinem Gutachten behandelt Nervius zum einen die rechtlichen Aspekte einer Entscheidung für die
Reformation, gibt zum anderen den Ratsmitgliedern aber auch praktische Empfehlungen für ihr weiteres
Vorgehen. Das Gutachten selbst besteht aus drei Teilen: Der erste Teil beantwortet entsprechend der Vor-
gabe im Schreiben des Rates vom April die Frage, ob der Rat den Geistlichen im Gegenzug für ihr Verhalten
in der Frage der Türkensteuer den Schutz und Schirm aufkündigen könne. Das schon lange angespannte
Verhältnis zwischen der Stadt und dem Stift St. Martin (s. oben S. 475) war im Streit um den Beitrag des
Stifts zur Türkensteuer gänzlich zerbrochen. Im Unterschied zu den Klöstern, die der Besteuerung
zustimmten, hatte sich das Stift zunächst überhaupt gegen einen eigenen Beitrag gewehrt und, als es dann
endlich sein Einverständnis gab, nur 50 statt der geforderten 125 Gulden gezahlt. Der Rat hatte daraufhin
die Einkünfte des Stifts gesperrt, was wiederum die Stiftsherren veranlaßte, beim Oberlandvogt Erzherzog
Ferdinand II. und bei der österreichischen Regierung in Ensisheim Schutz zu suchen57. Nervius warnte die
Colmarer Ratsherren jedoch vor einer voreiligen Aufkündigung von Schutz und Schirm und riet, einen
solchen Schritt erst nach dem Religionswechsel zu unternehmen.
Die zweite Frage des Colmarer Rates vom April hat Nervius in seinem Gutachten aufgespalten: Dabei
behandelt er zunächst das Problem, ob die Stadt aufgrund des Augsburger Religionsfriedens von 1555
überhaupt berechtigt sei, die Religion zu verändern. Dies bejaht der Straßburger Syndikus mit Blick auf
den Artikel 15 des Augsburger Religionsfriedens ausdrücklich58. Nervius widerlegt auch die ein Jahr zuvor
von den kaiserlichen Kommissaren in Hagenau vorgetragenen Einwände, nämlich, daß die Städte der
Dekapolis keine immediaten Reichsstände seien, weil sie als Teil der Dekapolis dem Haus Österreich unter-
ständen, und daß der Artikel 15 des Augsburger Religionsfriedens nur für die Städte Gültigkeit besitze,
welche die Reformation vor dem Stichjahr 1555 eingeführt hätten59. Der Colmarer Führung riet er, mög-
lichst rasch evangelische Prediger anzustellen und damit vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor der Kaiser
auf Drängen der altgläubigen Geistlichen irgendwelche Mandate erlasse. Dann kommt Nervius auf die
Frage zu sprechen, wie Colmar auf mögliche Einwände des Kaisers oder von anderer Seite reagieren könnte.
52 AM Colmar AA 86, Nr. 34. Auszüge davon in Rocholl,
Anfänge, S. 168 und Greyerz, City reformation,
S. 110. Vgl. auch Billing, Chronik, S. 84.
53 Vgl. Greyerz, City Reformation, S. 110 mit Anm. 74.
54 AM Colmar GG 151, Nr. 42.
55 Ein kurzes Biogramm zu Johannes Nervius findet sich in
Sehling, EKO XX,1, S. 502, Anm. 9.
56 AM Colmar GG 151, Nr. 30.
57 Vgl. Goehlinger, Histoire du chapitre, S. 247-258.
58 RTA, JR 20,4, Nr. 390, S. 3108f.
59 Siehe oben S. 476.
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Bezüglich des Artikels 15 des Religionsfriedens wollte der Kaiser den verstand solcher Constitution nicht
disputirn, sondern dieselbige in ihrem werth bleiben lassen52. Die Unentschlossenheit des Kaisers verstand die
Colmarer Führung als Ermutigung53; trotzdem suchte sie sich vor der Einführung der Reformation zusätz-
lich noch durch ein Rechtsgutachten abzusichern.
Wie die Kollegen in Münster und in Hagenau wandten sich die Colmarer Ratsherren dabei hilfesuchend
an die Reichsstadt Straßburg. In einem Schreiben vom April 1575 baten sie den Straßburger Syndikus
Johannes Nervius (Nerv) um eine Stellungnahme zu zwei Fragen: 1. Obe meine herren nit befugt, die pfaffen
dahin zu vermogen, das sie die new angenhommen schirm [Habsburgs] wider auffkhundeten unnd meiner herren
schirm sich bewegen liessen oder gar von meinen herren hinweg ziehen unnd auch meiner herren schirm verlassen
muessen. 2. Die weil die pfaffen [...] sich so ergerlich, auch gotslesterlich inn leer unnd leben halten, mit was
fugen meinen herren ein gelehrten mann, der die warheit predigte unnd Augspurgischer Conjession gemess
bekennen, anstellen [...] mochten und [...] sich dessen gegen der kaiserlichen majestät, wo sie darumb angerathen,
zu entschuldigen54. Johannes Nervius, ein Neffe des Humanisten Konrad Heresbach, der nicht nur für die
Stadt Straßburg, sondern auch als Assessor am Reichskammergericht tätig war, und in dieser Doppelfunk-
tion einen idealen Ansprechpartner für den Rat bildete55, sandte sein Gutachten am 7. Mai zusammen mit
einem Begleitschreiben nach Colmar56.
In seinem Gutachten behandelt Nervius zum einen die rechtlichen Aspekte einer Entscheidung für die
Reformation, gibt zum anderen den Ratsmitgliedern aber auch praktische Empfehlungen für ihr weiteres
Vorgehen. Das Gutachten selbst besteht aus drei Teilen: Der erste Teil beantwortet entsprechend der Vor-
gabe im Schreiben des Rates vom April die Frage, ob der Rat den Geistlichen im Gegenzug für ihr Verhalten
in der Frage der Türkensteuer den Schutz und Schirm aufkündigen könne. Das schon lange angespannte
Verhältnis zwischen der Stadt und dem Stift St. Martin (s. oben S. 475) war im Streit um den Beitrag des
Stifts zur Türkensteuer gänzlich zerbrochen. Im Unterschied zu den Klöstern, die der Besteuerung
zustimmten, hatte sich das Stift zunächst überhaupt gegen einen eigenen Beitrag gewehrt und, als es dann
endlich sein Einverständnis gab, nur 50 statt der geforderten 125 Gulden gezahlt. Der Rat hatte daraufhin
die Einkünfte des Stifts gesperrt, was wiederum die Stiftsherren veranlaßte, beim Oberlandvogt Erzherzog
Ferdinand II. und bei der österreichischen Regierung in Ensisheim Schutz zu suchen57. Nervius warnte die
Colmarer Ratsherren jedoch vor einer voreiligen Aufkündigung von Schutz und Schirm und riet, einen
solchen Schritt erst nach dem Religionswechsel zu unternehmen.
Die zweite Frage des Colmarer Rates vom April hat Nervius in seinem Gutachten aufgespalten: Dabei
behandelt er zunächst das Problem, ob die Stadt aufgrund des Augsburger Religionsfriedens von 1555
überhaupt berechtigt sei, die Religion zu verändern. Dies bejaht der Straßburger Syndikus mit Blick auf
den Artikel 15 des Augsburger Religionsfriedens ausdrücklich58. Nervius widerlegt auch die ein Jahr zuvor
von den kaiserlichen Kommissaren in Hagenau vorgetragenen Einwände, nämlich, daß die Städte der
Dekapolis keine immediaten Reichsstände seien, weil sie als Teil der Dekapolis dem Haus Österreich unter-
ständen, und daß der Artikel 15 des Augsburger Religionsfriedens nur für die Städte Gültigkeit besitze,
welche die Reformation vor dem Stichjahr 1555 eingeführt hätten59. Der Colmarer Führung riet er, mög-
lichst rasch evangelische Prediger anzustellen und damit vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor der Kaiser
auf Drängen der altgläubigen Geistlichen irgendwelche Mandate erlasse. Dann kommt Nervius auf die
Frage zu sprechen, wie Colmar auf mögliche Einwände des Kaisers oder von anderer Seite reagieren könnte.
52 AM Colmar AA 86, Nr. 34. Auszüge davon in Rocholl,
Anfänge, S. 168 und Greyerz, City reformation,
S. 110. Vgl. auch Billing, Chronik, S. 84.
53 Vgl. Greyerz, City Reformation, S. 110 mit Anm. 74.
54 AM Colmar GG 151, Nr. 42.
55 Ein kurzes Biogramm zu Johannes Nervius findet sich in
Sehling, EKO XX,1, S. 502, Anm. 9.
56 AM Colmar GG 151, Nr. 30.
57 Vgl. Goehlinger, Histoire du chapitre, S. 247-258.
58 RTA, JR 20,4, Nr. 390, S. 3108f.
59 Siehe oben S. 476.
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