Microns Ordinancien (1554) 1565
sonder wir halten uns für heilig in unsern augen.
Und hierin sündiget einer schwerlicher denn der
ander. Etlich ubergeben [!] die, so sie vermanen,
mit bösen und schändlichen 1 worten und fassen
darauß m zum oftermal einen ewigen und tödlichen
haß, halten auch alle christliche vermanung für
einen zwang und beschwerung n. Sonderlich aber, so
man sie nach gestalt 0 ihrer sünden etwas schärfer
straffet denn ihre zarte oren leiden mögen. Achten
a Pro.27[6] aber nichts auf die lehr Salomonis, (a) daß des freun-
Vielerley auß- des wunden (das ist schneidende vermanungen)
flucht.p besser sind denn des feindes kuß. Andere, nachdem
sie vermanet sind, suchen sie ihre boßheitq zu be-
b Gal.6[5] decken und sagen: (b) Ein jeder soll seinen last tra-
gen. Niemand wird umb meiner sünd willen ver-
dampt werden. Du wirst nit für mich in die helle
c Joh.8[7] fahren. Etliche sagen: (c) Welcher unter euch on
d Mat.7[3] sünde ist, der werfe den ersten stein. Item: (d) Du
heuchler, was sihestu den splitter in deines bruders
auge und wirst nit gewar des balken in deinem au-
gen? Andere, wenn sie vermanet werden, wollen sie
al.Sa.15[13ff.] g uf machen, das böse ist, (a) gleich wie Saul tet. An-
dere suchen ursachen, denen, so sie vermanet, zu
b Exod.2[13f.] beschuldigen, wie der (b) Hebreer gegen Mosen tet.
Act.7[26-28] Solche und dergleichen reden brauchen sie viel.
Welche aber nach der vermanung aufs allergelindest
antworten, die sprechen: Der teufel ist listig, daß
fleisch ist schwach, und wir sind keine engel. Oder
c Gen.3[12f.] sie werfen die schult auf andere, (c) wie Adam und
Eva teten, aber gleichwol wollen sie sich nicht
bessern.
Und je böser einer ist, je unwilliger er 44 die ver-
manung annimpt. Aber ein jeder Christ, wenn er
vermanet wird, soll sich gehorsamlich nach der regel
Christi beugen, wo er anders ein lebendig glied seiner
gemeine sein wil. Derwegen, wenn einer einiger sach
halber vermanet ist, so soll er bey ihm selber fleissig r
uberlegen, ob er desselbigen schuldig sey oder nicht.
l) ubergeben ... bösen und schändlichen] N: ouer-
gaen haer vermaenders met smadelicke
m) N + teghen huer
n) zwang und beschwerung] N: ouerlast ende laste-
ringhe o) nach gestalt] N: na den heijsch
p) N (Vielerley außflucht.) q) N +fijn
Ist er unschuldig, so sol er Gott für seine grosse s güte
danken, durch welche er vor dem fall behütet ist, ja,
ohn welche er teglich in grosse sünden fallen müste.
Darneben aber sol er die brüderliche ver|manung f. 85
für ein woltat halten und dem bruder dafür fleissig 1
danken und sich selbst züchtig und erbarlich u ver-
antworten. Ist er aber in der sach schuldig, die wider
den willen Gottes geschehen ist, so sol er nichts
widerstreben, weder mit leugnen noch verkleineren
dieselbige ubeltat, sonder sol es dafür halten, daß er
von dem bruder als durch die stimme Gottes ver-
manet werde und sich keineswegs schemen, seine
schult für dem bruder zu bekennen. Wie sich der (a) a 2. Sa. 12 [13]
könig David desselbigen vor dem propheten Nathan
nicht geschemet hat. (b) Christus zeiget auch an, b Luc. 17 [3f.]
daß es des gefallenen bruders (wenn er vermanet
wird) ampt sey, daß er sich mit reu und leid wider
zu dem bruder bekeren sol. (c) Und Jacobus der c Jacob. 5 [16]
apostel gebeut eben dasselbige und spricht: Einer
bekenne dem andern seine sünde.
Alles, was biß anher von dem heimlichen gebrauch
der christlichen straffe gesagt ist, wird oftermals
in den gemeinen predigen v der gemeine vorgehalten.
Denn nichts so notwendig ist zu der underhaltung
des gebrauchs der offentlichen straffe und der
christlichen freiheit und liebe als diß tun und an-
nemen der heimlichen vermanung.
Neben dem werden auch alle brüder geleret, daß
sie nit weniger schuld haben, die den gefallenen
bruder nit vermanen, als diejenige, so selbs in sün-
den gefallen sind. Denn sie durch ihr schweigen den
(a) gefallenen bruder (sovil an ihnen ist) verlieren, a Matt. 18 [15.7]
welchen sie zu gewinnen sich befleissen sollen. Ja,
sie füllen die ganze gemeine mit ergernussen, wel-
chen sie vilmehr schuldig sind zu wehren. Aber weh
dem menschen (wie Christus sagt), durch welchen
ergernuß kompt.
r) N (fleissig) s) grosse] N: goddelicke
t) N (fleissig) u) erbarlich] N: claerlick
v) N + vande Dienaers
44 Druckvorlage: er er.
41 Sehling, Niedersachsen II/l
641
sonder wir halten uns für heilig in unsern augen.
Und hierin sündiget einer schwerlicher denn der
ander. Etlich ubergeben [!] die, so sie vermanen,
mit bösen und schändlichen 1 worten und fassen
darauß m zum oftermal einen ewigen und tödlichen
haß, halten auch alle christliche vermanung für
einen zwang und beschwerung n. Sonderlich aber, so
man sie nach gestalt 0 ihrer sünden etwas schärfer
straffet denn ihre zarte oren leiden mögen. Achten
a Pro.27[6] aber nichts auf die lehr Salomonis, (a) daß des freun-
Vielerley auß- des wunden (das ist schneidende vermanungen)
flucht.p besser sind denn des feindes kuß. Andere, nachdem
sie vermanet sind, suchen sie ihre boßheitq zu be-
b Gal.6[5] decken und sagen: (b) Ein jeder soll seinen last tra-
gen. Niemand wird umb meiner sünd willen ver-
dampt werden. Du wirst nit für mich in die helle
c Joh.8[7] fahren. Etliche sagen: (c) Welcher unter euch on
d Mat.7[3] sünde ist, der werfe den ersten stein. Item: (d) Du
heuchler, was sihestu den splitter in deines bruders
auge und wirst nit gewar des balken in deinem au-
gen? Andere, wenn sie vermanet werden, wollen sie
al.Sa.15[13ff.] g uf machen, das böse ist, (a) gleich wie Saul tet. An-
dere suchen ursachen, denen, so sie vermanet, zu
b Exod.2[13f.] beschuldigen, wie der (b) Hebreer gegen Mosen tet.
Act.7[26-28] Solche und dergleichen reden brauchen sie viel.
Welche aber nach der vermanung aufs allergelindest
antworten, die sprechen: Der teufel ist listig, daß
fleisch ist schwach, und wir sind keine engel. Oder
c Gen.3[12f.] sie werfen die schult auf andere, (c) wie Adam und
Eva teten, aber gleichwol wollen sie sich nicht
bessern.
Und je böser einer ist, je unwilliger er 44 die ver-
manung annimpt. Aber ein jeder Christ, wenn er
vermanet wird, soll sich gehorsamlich nach der regel
Christi beugen, wo er anders ein lebendig glied seiner
gemeine sein wil. Derwegen, wenn einer einiger sach
halber vermanet ist, so soll er bey ihm selber fleissig r
uberlegen, ob er desselbigen schuldig sey oder nicht.
l) ubergeben ... bösen und schändlichen] N: ouer-
gaen haer vermaenders met smadelicke
m) N + teghen huer
n) zwang und beschwerung] N: ouerlast ende laste-
ringhe o) nach gestalt] N: na den heijsch
p) N (Vielerley außflucht.) q) N +fijn
Ist er unschuldig, so sol er Gott für seine grosse s güte
danken, durch welche er vor dem fall behütet ist, ja,
ohn welche er teglich in grosse sünden fallen müste.
Darneben aber sol er die brüderliche ver|manung f. 85
für ein woltat halten und dem bruder dafür fleissig 1
danken und sich selbst züchtig und erbarlich u ver-
antworten. Ist er aber in der sach schuldig, die wider
den willen Gottes geschehen ist, so sol er nichts
widerstreben, weder mit leugnen noch verkleineren
dieselbige ubeltat, sonder sol es dafür halten, daß er
von dem bruder als durch die stimme Gottes ver-
manet werde und sich keineswegs schemen, seine
schult für dem bruder zu bekennen. Wie sich der (a) a 2. Sa. 12 [13]
könig David desselbigen vor dem propheten Nathan
nicht geschemet hat. (b) Christus zeiget auch an, b Luc. 17 [3f.]
daß es des gefallenen bruders (wenn er vermanet
wird) ampt sey, daß er sich mit reu und leid wider
zu dem bruder bekeren sol. (c) Und Jacobus der c Jacob. 5 [16]
apostel gebeut eben dasselbige und spricht: Einer
bekenne dem andern seine sünde.
Alles, was biß anher von dem heimlichen gebrauch
der christlichen straffe gesagt ist, wird oftermals
in den gemeinen predigen v der gemeine vorgehalten.
Denn nichts so notwendig ist zu der underhaltung
des gebrauchs der offentlichen straffe und der
christlichen freiheit und liebe als diß tun und an-
nemen der heimlichen vermanung.
Neben dem werden auch alle brüder geleret, daß
sie nit weniger schuld haben, die den gefallenen
bruder nit vermanen, als diejenige, so selbs in sün-
den gefallen sind. Denn sie durch ihr schweigen den
(a) gefallenen bruder (sovil an ihnen ist) verlieren, a Matt. 18 [15.7]
welchen sie zu gewinnen sich befleissen sollen. Ja,
sie füllen die ganze gemeine mit ergernussen, wel-
chen sie vilmehr schuldig sind zu wehren. Aber weh
dem menschen (wie Christus sagt), durch welchen
ergernuß kompt.
r) N (fleissig) s) grosse] N: goddelicke
t) N (fleissig) u) erbarlich] N: claerlick
v) N + vande Dienaers
44 Druckvorlage: er er.
41 Sehling, Niedersachsen II/l
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