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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (8. Band = Hessen, 1. Hälfte): Die gemeinsamen Ordnungen — Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1965

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https://doi.org/10.11588/diglit.30457#0052
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Blicken wir auf die kirchen- und theologiegeschichtliche Situation, wie sie etwa im Jahre 1567,
bei dem Tode Philipps und der Aufspaltung der hessischen Landgrafschaft, bestand, so war sie dadurch
gekennzeichnet, daß die Reformation - wesentlich provoziert durch das inzwischen abgeschlossene Tri-
dentinum und im rechtlichen Bezirk bedingt durch den Abschluß des Religionsfriedens von 1555 - dazu
drängte, sich dogmatisch und rechtlich zu integrieren und zu konsolidieren. Dieser Prozeß brachte es
mit sich, daß die ,,vorkonfessionellen“ Prägungen mehr und mehr zerrieben wurden. Für den Bereich
des deutschen Luthertums führte er allmählich auf die Formula Concordiae hin, die notwendigerweise
die Abschließung des Gnesioluthertums von denjenigen Richtungen und Territorien bedeutet, die dem
deutsch-reformierten 2 Kirchentum nahestanden und sich der Formula Concordiae nicht anschlossen.
Für diese Territorien, zu denen auch Hessen und etwa Bremen gehörte, führt dieser Prozeß dazu, daß
in ihnen die Nötigung wuchs, sich dem ebenfalls der Integration zustrebenden deutschen Reformierten-
tum anzuschließen. Der letztere Integrationsprozeß hat in Wirklichkeit noch mehrere Jahrzehnte in An-
spruch genommen und sein Ziel nicht in Deutschland, sondern den Niederlanden gefunden. Er hat
aber auch schon vorher dazu geführt, daß ein großer Teil der deutschen Territorien philippistischer
oder bucerischer Prägung um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert ihren Übergang zum Reformier-
tentum formell vollzogen.
Die hessische Kirchenordnung stellt, wenn man sie in ihrer Gesamtheit betrachtet, den Versuch dar,
die Entwicklung der hessischen Kirche während der Regierungszeit Philips des Großmütigen zu stan-
dardisieren. Dies bedeutet praktisch, daß Hessen - in der Sicht von 1566 betrachtet - die ,,vorkonfessio-
nelle“ Gestalt seines Kirchenwesens beibehielt. Damit aber war ein Standort bezogen, über den die
theologische und politische Entwicklung bereits hinweggeschritten war. Hessen selber hat diesen Stand-
ort daher auch nicht festzuhalten vermocht; zwar hat man die technischen Mängel der Ordnung von
1566 dadurch auszugleichen versucht, daß man in der Agende von 1574 eine handlichere Ordnung
schuf, die dann auch in Anwendung kam. Dagegen ging die theologische Entwicklung auch über die
Ordnung von 1574 bald hinaus, nachdem nämlich Hessen nach umständlichen Verhandlungen seine
Mitwirkung an der Formula Concordiae versagte und daher mehr und mehr in jenen Bereich gedrängt
wurde, der oben als deutsch-reformiert bezeichnet wird.
im Vordergrund. Aber daß sie so stark nach vorn geschoben werden, verdankt die hessische Kirche zunächst Martin
Bucer und später den Männern, die im Einflußbereich Straßburger Traditionen stehen. Gerade diese letzte Tatsache
zeigt auch die große Streuweite und den eigenständigen Typus Straßburger Kirchentums, das wahrscheinlich
weitgehend durch mittelalterliche Strömungen vorgeformt ist, das aber seinen Einfluß in der Reformationszeit
gerade durch seine ungeheure Gestaltungskraft erreicht hat. — Der Aufweis von Paralleltraditionen stellt Bucer
in den Zusammenhang mit oberdeutscher Theologie, welchen Rahmen er überall dort verläßt, wo er eine Möglichkeit
sieht, die Einheit der pura et catholica ecclesia wiederherzustellen bzw. zu verwirklichen. Daher auch der Zug einer
,,vorkonfessionellen“ Theologie sowohl bei Bucer als auch in der hessischen Reformationsgeschichte bis weit in das
Jahrhundert hinein.
2 Der Begriff der deutsch-reformierten Kirche geht auf H. Heppe zurück (Der Charakter der deutsch-reformierten
Kirchen und das Verhältnis derselben zum Luthertum und zum Calvinismus, ThStKr 1850), der damit die Kirchen-
gebilde vor allem der Pfalz, Hessens und Brandenburgs unter einen einheitlichen Gesichtspunkt — „der Aufrecht-
erhaltung des Melanchthonischen Typus in der Lehre und dem Charakter der Kirche“ und in der Absetzung gegen
Calvinismus und Luthertum — zu sehen versucht. Den Beginn der deutsch-reformierten Kirche sieht er veranlaßt
„durch die nach dem naumburger Fürstentage beginnende Secession des exclusiven Gnesioluthertums aus der alt-
evangelischen, wesentlich von Melanchthon’s Auctorität getragenen Gemeinschaft der evangelischen Stände Deutsch-
lands“ (aaO. 703).Vgl. auch H. Heppe, Geschichte des deutschen Protestantismus in den Jahren 1555-1581, I,
440 ff. — Mit dieser Bestimmung enthält der Begriff der deutsch-reformierten Kirche schon von Haus aus eine Ab-
setzung von den beiden polaren Ausbildungen des reformatorischen Ansatzes in Luthertum und Calvinismus und
eine Hinneigung zu einer vermittelnden Stellung, die Heppe in der melanchthonischen Ausprägung der reforma-
torischen Lehre erkennt. Zu erweitern wäre Heppes Definition dahingehend, daß Melanchthon nicht allein als
Zeuge dieser Kirchlichkeit anzusehen ist. In mindestens ebenso starkem Maße tritt Bucer ihm zur Seite, vor allem
im hessischen Raum, vgl. F.W. Hassencamp 11, 165f; E. Hofsommer 9. — Im Gegensatz zu Heppe: A. F.
C. Vilmar 225.

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