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Wolgast, Eike [Hrsg.]; Seebaß, Gottfried [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Kirchenrechtliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland [Hrsg.]; Sehling, Emil [Begr.]
Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts (8. Band = Hessen, 1. Hälfte): Die gemeinsamen Ordnungen — Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1965

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https://doi.org/10.11588/diglit.30457#0118
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Ziegenhainer Zuchtordnung 1539

sandten von stetten5 versamlet gewesen. Und
nachdem wir nu langst gnugsam erfaren, daß der
satan nicht allein durch allerlei rotten und secten6,
sondern auch durch die fleischliche üppigkeit und
verlassen wesen eben viel armer leut von der ge-
mein Christi zum teil gar entfrembdet und abhal-
tet, zum teil so viel abzeucht und eußert, daß sie
sich in die ware und ganze gemeinschaft der lere,
sacramenten und zucht7 Christi nicht begeben,
haben wir uns im Herren beforschet und beraten,
wie wir sölchen irrigen schäflin wider in schafstall
und zu derselbigen hut und weide Christi genzlich
verhelfen, auch die, so noch nicht abgefürt, in die-
sem schafstall und bei dieser hut und weide behal-
ten und zu ihrem heil seliglich versehen und wei-
den möchten. Als aber wir unserer kirchen und ge-
meinden alle gelegenheit, mangel und fehl erwogen
und gegen dem, das in aller schrift und in dem
exempel unsers lieben Herren Jesu, des erzhirten
und bischoffs unserer seelen [1. Petr 2, 25] und sei-
ner lieben apostel von dem hirtendienst und rech-
ter seelsorge uns vorgeschrieben ist [u. a. Mt 18,
15 ff.; Act 20,28], gehalten, haben wir uns auf
christliche verbesserung unsers g. h. und eines je-
den rechtverstendigen christen nach volgender
ordenung bedacht und entschlossen.
Zum ersten, daß, wie der h. Geist so ernstlich
gebeut [Act 20, 28] und unser g. f. und h. hievor
auch in höchsten treuen erfordert hat8, die wir-

5 Vgl. Sohm, Territorium 163 Anm. 1, der darauf
hinweist, daß auf der Synode zu Ziegenhain das
letzte Mal die Vertreter der Städte als einfache bür-
gerliche Laien anwesend waren. Im Anschluß an die
Ausführung der Zuchtordnung wird nun ihr Stand
repräsentiert durch die Ältesten, d. h. durch die Ver-
treter eines kirchlichen Amtes.
6 Gemeint sind vornehmlich die Wiedertäufer (vgl.
auch die Visitationsordnung von 1537, Abschn. 14,
S. 87 und Sohm, Territorium 165 Anm, 1). Im
Auftrage des Landgrafen hatten Valentin Breul
(Hofgerichtssekretär), Gerhard Geldenhauer und
Theodor Fabricius (Quellen IV, 65 A) die in Wol-
kersdorf gefangengehaltenen Wiedertäufer verhört
(vgl. auch Lenz I, 320); ihre Berichte: Quellen
IV, 65 B.C.F. - Über Bucers Anteil an den Wieder-
täuferverhören vgl. die folgende Anm.
7 Das weitgehende Versagen der Kirchenverfassung,
die 1537 durch die Kirchendienerordnung geschaf-
fen worden war, und das verbreitete Auftreten der
Wiedertäufer gerade im Jahre 1537/38 (Quellen

digen hoch und wol gelerten herrn und brüder, die
superintendenten sampt andern getreuen dienern
der kirchen und der oberkeit, ein recht geflissen
und eiferiges aufsehens haben über alle ihre kir-
chen und gemeinden, damit dieselbigen mit recht-
gelerten, verstendigen, bescheidenen, eiferigen und
frommen predigern bestelt und gnugsamlich er-
halten werden, welche nit allein zu den gemeinen
predigen, sondern auch zu dem besonderem un-
derweisen, vermanen und straffen gegen menig-
lichen geflissen und mechtich seien, die auch ihre
catechismos und alles, das zur seelsorg gehört, mit
allen treuen und ernst halten und üben.
Zum andern: Weil des Herrn bevelch ist, alle
getauften ihr ganzes leben lang zu underrichten
und zu leren halten, was er befolhen [Mt 28, 20],
ja, auch zu suchen und zum heil in ihm zu bringen,
alles das verdorben ist [Lc 19, 10], und aber den
dienern des worts nit müglich, allein auf jederman
nach aller notturft zu sehen und auch einen iden
alle mal mit frucht zur besserung zu vermanen,
straffen und warnen, haben wirs anders nit erken-
nen mögen, dann daß die hohe notturft unserer
kirchen erfordert, daß wir die alte ordenung des
h. Geistes, wie wir die in den apostolischen ge-
schriften haben [1. Tim 5, 17 ff.; Tit 1, 5 ff.; 1. Petr
5, 1 ff.], bei uns wider aufrichten und zu den die-
nern des wortes in jeder kirchen, nach dem sie groß
oder klein an leuten sein, etlich presbiteros, das
IV, 71) ließ den Gedanken der Zucht (hier: Bann,
Ältestenamt, Konfirmation) in den Vordergrund tre-
ten (Sohm, Territorium 158). Hier liegt vor allem
Bucers Verdienst für die hessische Kirche in diesen
Jahren. In Wiedertäuferverhören (vornehmlich vom
30. Okt. bis 3. Nov. 1538) gewinnt er die meisten
der führenden hessischen Wiedertäufer für eine ak-
tive Mitarbeit innerhalb der hess. Kirche (Sohm,
Territorium 162 f.; Quellen IV, 77. 79. 82; Lenz
I Beilage I). In der Sicht Sohms (Territorium
165 f.) erscheint die durch die Wiedertäufer hervor-
gerufene kirchenrechtlich begründete Zucht als ein
Element, das die Kirche gegenüber dem Territo-
rium als Rechtsstaat absondert. - Das Element der
Kirchenzucht als dritte nota ecclesiae bleibt für
die Gestaltung des hessischen Kirchenwesens für
die folgende Zeit bestimmend (vgl. S. 179).
8 Vgl. Visitationsordnung 1537, Abschn. 1 (S. 83)
und die Kirchendienerordnung desselben Jahres,
Abschn. 6 (S. 95 f.).

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