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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2010 — 2011

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I. Das Geschäftsjahr 2010
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Antrittsreden
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Eberhard, Schockenhoff: Antrittsrede von Herrn Eberhard Schockenhoff an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften vom 23. Januar 2010
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https://doi.org/10.11588/diglit.55658#0186
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202 | ANTRITTSREDEN

ein Theorie der menschlichen Lebensführung unter dem Anspruch des Evangeliums.
Daher darf sie sich nicht auf eine theoretische Analyse menschlicher Handlungsbe-
dingungen und auf die allgemeine Begründung der Idee eines normativen Sollens
beschränken. Sie muss sich auch der Aufgabe der Konkretion, der Bewährung in
praktischen Handlungsfeldern stellen, die den eigentlichen Ernstfall der Ethik aus-
macht.
Innerhalb der angewandten Ethik konzentrierte sich mein Forschungsinteresse
in den vergangenen Jahren auf die Fragestellungen der Lebensethik und der medizi-
nischen Ethik, die zugleich Gegenstand kontroverser öffentlicher Debatten waren.
Exemplarisch erinnere ich nur an die Auseinandersetzungen um den ethischen
Grundkonsens der Gesellschaft im Rahmen der Debatten um den Schwangers-
schaftsabbruch, an die Frage der Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens in
seinen Frühphasen, an die neuen Möglichkeiten der molekularen Medizin und die
neuen Techniken der Fortpflanzungsmedizin von der Stammzellforschung über das
biomedizinische Forschungsklonen bis zur Präimplantationsdiagnostik.
In der ethischen Beurteilung einzelner Forschungsvorhaben oder medizini-
scher Therapieansätze gehe ich von der Prämisse aus, dass diese nicht nur die Ziel-
setzungen der Akteure, sondern auch die angewandtenVerfahren und Methoden als
solche sowie die vorhersehbaren Folgen menschlicher Eingriffe in die biologischen
Grundlagen des Lebens berücksichtigen muss. Zu den Kriterien einer umfassenden
ethischen Beurteilung menschlicher Handlungen im Bereich wissenschaftlicher For-
schung und ärztlichen Handelns gehören demnach die Rechtfertigung der Ziele (im
wissenschaftsethischen Jargon: die Feststellung ihrer Hochrangigkeit), die Überprü-
fung der Mittel (ob sie eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens beinhalten
und damit der Menschenwürde widersprechen) und die Verantwortung für die Fol-
gen (die als Risikobilanzierung oder Nutzen-Schaden-Kalkulation eine unbestritte-
ne Sorgfaltspflicht auch im wissenschaftlichen Bereich darstellt).
Aufgrund der Annahme, dass die Menschenwürde nicht auf gesellschaftlicher
Verleihung an den Einzelnen oder einem kulturellen Zuschreibungsakt beruht, son-
dern jedem Menschen vom Ursprung seines Daseins an zukommt, beantworte ich
die Frage nach dem Beginn der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens mit dem
Abschluss der Befruchtung, also dem Zeitpunkt, von dem an die Zygote eindeutig
sowohl artspezifisch (als Mensch) als auch individualspezifisch (als dieser Mensch) fest-
gelegt ist. Gegenüber allen späteren Zuschreibungskandidaten (Nidation, Ausbildung
der Gehirnanlage, Geburt oder der Besitz sogenannter moralisch relevanter Eigen-
schaften wie des Selbstbewusstseins oder der Fähigkeit, zukunftsbezogene Wünsche
zu entwickeln) erscheint mir die Befruchtung als das willkürärmste Kriterium, dem
wir aus Gründen der Unparteilichkeit und Gerechtigkeit den Vorzug geben müssen.
Daher gelange ich in Blick auf die embryonale Stammzellenforschung, die Präim-
plantationsdiagnostik, das Klonen sowohl in der Form des reproduktiven Klonens als
auch des biomedizinischen Forschungsklonens sowie der Herstellung von Mensch-
Tier-Hybriden zu einer vorsichtigeren Einschätzung als sie im gegenwärtigen
Wissenschaftsbetrieb vorherrscht. Dieser wird häufig von einer pragmatischen Sicht-
weise dieser Probleme oder einer Step by step-Rechtfertigung des jeweils nächsten
 
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