Metadaten

Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0188
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
184 | I. Die Abtei von Saint-Bertin

Bileam und seinen Esel an. Während er die Mönche mit jenem verglich, der Gott
nicht sah, sei der Graf mit dem Esel gleichzusetzen, der so viel Last und Mühe zu
ertragen habe, nicht lesen könne, aber dennoch durch die Gnade Gottes jene inne-
ren Lichter wahrnehme, die zu ihrem Heil von Nutzen seien, und der sie auf den
rechten Weg zurückführe. Im Gegensatz dazu richteten die Mönche ihre Augen
täglich auf die littera legalis und widmeten sich der lectio prophetica. Der Bischof
habe daraus gefolgert, dass die Mönche die Texte zwar lesen, sie jedoch entweder
nicht verstanden oder sie verstanden, aber nicht beachteten. Am Ende seiner Rede
habe er die Mönche schließlich zur Besserung auf gerufen.799 Simon bemerkt ab-
schließend, dass die Mönche von Arras im Jahre 1109 den ordo cluniacensis ange-
nommen hatten.800 801
Das Beispiel der Abtei von Saint-Vaast folgt mehr oder weniger demselben Mus-
ter, wie es in den beiden vorherigen Fällen beschrieben wurde. Ein innerer Kon-
flikt führte dazu, dass die Disziplin im Kloster deutlich nachgelassen hatte und nur
durch die Hilfe des Grafen, des Bischofs und Abt Lamberts wiederhergestellt wer-
den konnte. Das zentrale Thema dieses Beispiels ist zweifelsohne die disciplina.^1
In der Rede, die Simon dem anwesenden Bischof in den Mund legt, legitimiert er
zunächst das Eingreifen des Grafen. Die erzwungene correctio sei gerechtfertigt, da
der Graf aus der richtigen Intuition heraus handle. Der Verweis auf die Lektüre der
Mönche ist dabei besonders interessant. Simon nennt hier zwei Arten von Texten,
die den Mönchen als Quelle für ein gottgefälliges Leben dienen sollten: Während
er mit der littera legalis zweifelsohne die normativen Texte, wie beispielsweise die
Benediktregel oder die Consuetudines meint, umschreibt die lectio prophetica cum
gratia evangelica die Heilige Schrift. Simon macht diesbezüglich aber deutlich, dass
die alleinige Lektüre dieser Texte wenig wert sei, wenn ihre Bedeutung nicht richtig
erfasst oder ihre Botschaft nicht umgesetzt werde. Da aus der Rede des Bischofs zu
entnehmen ist, dass in Saint-Vaast weiterhin täglich aus den entsprechenden Tex-
799 Simon, Gesta, II, c. 84, S. 651-652: »>Vobis<, inquit episcopus, >o fratres et monachi, ad exprobationem
cecitatis internae Balaam vesani prophetae brutum proponendum est subiugale. Quod mira Dei potentia
ore diserto in articulata verba dirupit, priusque quam propheta angelum adversantem cum gladio, in via
stantem, praevidit, cui dum reverenter asina cessit, angelus presidenti prophetae misericorditer perpercit.
Vos itaque non immerito comparandi estis non videnti divino, asinae vero comes laicus, qui, cum tot sus-
tineat et tanta negotia solus, litteram non legit, sed per Dei gratiam interioribus luminibus apertis quae
vestrae sunt saluti proficua sollicite attendit vosque in via non bona aberrantes ad viam reducere nititur
veritatis, cum vestris cotidie praeiaceat oculis et littera legalis et lectio prophetica cum gratia evangelica;
quae cum legitis, aut non intelligitis, aut intellecta prorsus negligitis.< Sicque perpaucis sermonem con-
cludens, ad meliora torpentes animabat.«
800 Simon, Gesta, II, c. 85, S. 652: »Anno igitur dominicae incarnationis 1109 ab Atrebtensibus susceptus est
ordo Cluniacensis.«
801 Zur Semantik des Begriffs disciplina im monastischen Kontext vgl. W. Dürig, Disciplina. Eine Studie
zum Bedeutungsumfang des Wortes.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften