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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0384
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380 | III. Die Abtei Saint-Martin in Tournai

Begeisterung dazu entschlossen, zusammen mit ihrem Mann und den drei Kindern
der Welt zu entsagen. Da zu dieser Zeit das Kloster von Saint-Martin noch nicht
wiederhergestellt war, lag es nahe, dass die Familie das Kloster von Saint-Amand
für ihr künftiges Leben wählte.1533 Damit sie »kein Teufel davon abbringe«, habe
Rudolf umgehend der Welt entsagen und dort eintreten wollen. Da Mainsendis aber
im zweiten Monat schwanger war, mussten sie dieses Vorhaben verschieben. Beide
hatten nun genügend Zeit, ihre Konversion vorzubereiten, und lebten eineinhalb
Jahre in Keuschheit.1534
Hermann stellt am Beispiel seiner Eltern auf sehr anschauliche Weise dar, wie
eine ideale Konversion aussehen sollte. Rudolfs Schlüsselerlebnis war die schwere
Krankheit, die ihn seines Daseins und seines Seelenzustandes bewusst werden ließ.
Der Rat der Kanoniker, der lediglich die Befolgung der althergebrachten Praktiken
der Kirche beinhaltete, erschien Rudolf aber keinesfalls ehrlich. Mit dieser kurzen
Bemerkung greift Hermann ein Thema auf, das in der Zeit um 1100 gerade im Re-
ligiosentum eine große Rolle spielte. Der Religiöse sollte Vorschriften und Regeln
nicht buchstabengetreu befolgen, insofern sie nicht mit seiner inneren Einstellung
konform waren. Entscheidend waren somit nicht die entsprechenden Praktiken,
sondern die dahinter stehende Intention.1535 Im Falle Rudolfs konnte allein die
ernstgemeinte Buße und Umkehr in Form des Mönchtums Abhilfe leisten. Die
weiteren Stationen in dieser Konversionsgeschichte haben ebenfalls Vorbildcharak-
ter: Rudolfs Entschluss wird in der Familie beraten und von seiner Frau begrüßt.
Die Oblation der Kinder kommt einem Akt der Nächstenliebe gleich, heißt es doch,
dass man sie vor dem »Teufel bewahren« wollte.1536 Auch die Verzögerung der Kon-
version ist positiv zu werten, da Rudolf dadurch nicht überstürzt und aus der ersten
Euphorie heraus der Welt entsagte, sondern genügend Zeit hatte, um sich auf diesen
Schritt vorzubereiten. Dass hierzu aber nicht nur die innere Einstellung gehörte,
sondern auch Fragen um Besitz und Ämter, zeigen auch andere zeitgenössische
Beispiele.1537

1533 Mainsendis sei dort geboren und aufgewachsen vgl. Hermann, Liber, c. 61, S. 106.
1534 Hermann, Liber, c. 61, S. 108: »[...] »Hoc«, inquit, »domine, non tarn cito potest fieri, quiddam enim
secreti necdum dixeram vobis, quoniam iam menses duo sunt ex quo me concepisse sensi, et utique
rationabile non esset ut pregnans de seculo exirem. Preparamus ergo interim omnia necessaria, quatinus
postquam peperero statim renuntiemus mundo [...].« Post hec, sicut ipsi multociens mihi retulerunt,
anno integro et dimidio in vita seculari manserunt, in uno lecto indivisi iacerunt, nec tarnen aliquid
carnale gesserunt, non sua fortitudine sed Christi gratia eos protegente.«
1535 Die Frage nach der rechten Intention und dem homo interior lässt sich in Texten der Zeit um 1100
verstärkt fassen; vgl. dazu S. R. Kramer, C. W. Bynum, Revisiting the Twelfth-Century Individual.
1536 Hermann, Liber, c. 61, S. 107: »[...] »Non in manu diaboli«, ait mulier, »eos relinquamus, sed potius
nobiscum eos deo presentemus [...].«
1537 Vgl. das Beispiel Simons von Crepy, der sich plötzlich bekehrt und dadurch großen Streit in seiner
Familie um das Grafenamt und die getätigten Stiftungen auslöst, vgl. dazu Vita Sancti Simonis comitis,
 
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