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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0030
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2.2 Erkenntnisinteressen: Philosophie und Seelsorge

29

Während im Bereich des monastischen Nachdenkens, dessen Resultate in
dieser Arbeit im Vordergrund stehen, vor allem Stufensysteme entstanden, mit
denen die Begriffsinhalte hierarchisiert werden sollten, wurde in den Milieus der
sich entwickelnden Scholastik vorwiegend versucht, durch ein zergliederndes
Fragen Aufschluss über Sein und Wesen des Gewissens zu gewinnen49. Dabei
lassen sich für beide Traditionen nicht nur je verschiedene Arten des Zugriffs auf
den Gegenstand feststellen, sondern ebenso auch auffällige Differenzen in den
relevanten Termini, die hier nur kurz angesprochen werden sollen.
Ausgangspunkt des philosophischen Nachdenkens war zuvorderst die Frage
nach dem menschlichen Willen, genauer: die nach dem Grund dafür, dass der
Mensch trotz seiner prinzipiellen Sündenverhaftetheit dennoch das Gute wollen
könne.50 Ausgehend von einer Passage aus Hieronymus’ (f 420) Kommentar
zum Buch Hesekiel - der sich darin wohl vor allem von Origenes (f 254) hatte
leiten lassen51 - und verstärkt durch die Auslegungsbemühungen dieser Stelle
durch Petrus Lombardus (f 1160) innerhalb seines Sentenzenwerkes, entstand
ein Begriff vom „Urgewissen“ oder „Gewissensgrund“, das (bzw. der) dem Men-
schen unauslöschlich eigen sei. Der Mensch wolle das Gute, „weil er mit gutem
und gerechtem Willen geschaffen wurde“, so der Lombarde, und er fuhr fort:
„Denn der höhere Funke der Vernunft, der - wie Hieronymus sagt - auch in
Kain nicht ausgelöscht werden konnte, will immer das Gute und haßt das Böse.“52
Wer jedoch bei Hieronymus selbst nachschlug, der fand, dass hier nicht von
einem „Funken der Vernunft“, sondern von einem solchen des Gewissens die
Rede war, den die Griechen als syneidesis bezeichnet hätten. Es heißt:
„[...] das, was die Griechen syneidesis nennen, der Funke des Gewissens, ist nicht
einmal im Inneren Kains, nachdem er aus dem Paradies heraus geworfen worden
war, erloschen. Durch ihn erkennen wir, daß wir sündigen, wenn wir von Begier-

49 Vgl. hierzu v. a. O. Lottin, Psychologie et morale, Bd. 2.1, S. 101-349; T. Potts, Conscience. Ein
guter Überblick zentraler Positionen findet sich bei E. Hirsch, Lutherstudien, Bd. 1, S. 13-49.
50 Vgl. hierzu J. Müller, Willensschwäche, v. a. S. 284-98, und passim; M. Perkams, Synderesis;
T. Potts, Conscience, S. 687 sowie im knappen Überblick M. Forschner, Thomas von Aquin,
S. 107-10, und Ders., Stoische Oikeiosislehre, S. 135-8. Die Bedeutung des Willens als Aus-
druck der conscientia ist bereits bei Augustinus und damit in anderem Zusammenhang zentral:
vgl. J. Stelzenberger, Conscientia bei Augustinus, v. a. S. 84-6.
51 Vgl. hierzu J. Müller, Willensschwäche, S. 288.
52 „Recte igitur dicitur homo naturaliter veile bonum, quia in bona et recta voluntate conditus est.
Superior enim scintilla rationis, quae etiam, ut ait Hieronymus, in Cain non potuit exstingui,
bonum semper vult et malum odit.“ Petrus Lombardus, Sententiae, lib. II, dist. 39. cap. 3.3,
Bd. 1, S. 556. Die Übersetzung ist bequem greifbar in der von Uta Störmer-Caysa heraus-
gegebenen Anthologie Über das Gewissen, S. 58.
 
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