2.2 Erkenntnisinteressen: Philosophie und Seelsorge
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auf dreierlei Weise sündigen könne: aus Unwissenheit, aufgrund von Krankheit
oder aber mit Vorsatz. Es kann kaum verwundern, dass für Gregor die letztge-
nannte die schwerste Form des Sündigens darstellte.71
Diese Sichtweise fand keinen Widerspruch, im Gegenteil: Sie wurde gerade
auch von Abelard dahingehend akzentuiert, dass Unwissenheit nicht in jedem
Fall als Entschuldigung gelten konnte, sofern diese Unwissenheit selbst eine
Sünde darstellte.72 Gegenteilige Behauptungen, wie jene des Wilhelm von
St. Thierry (f 1148), sind eher polemischer Natur und Reaktion auf die Uner-
hörtheit des von Abelard vorgebrachten Beispiels der Schuldlosigkeit jener, die
Christus gekreuzigt hatten: dass sie dies nämlich guten Gewissens getan hätten.73
Ernsthaft erschüttert werden konnte diese Sichtweise, wonach die Absicht für
die Bewertung einer Handlung entscheidend war, durch derartige Unterstellun-
gen jedoch nicht. Thomas von Aquin wies in seinem Traktat Über die Wahrheit
darauf hin, dass es sehr wohl Irrtümer gebe, die in sich sündhaft seien, weswegen
alles, was aus einer solchen Unkenntnis folge, notwendig selbst Sünde sei.74
Unter dieser Bedingung kann zugleich - vor der Prämisse von Rm 14.23 - die
Letztinstanzlichkeit des Gewissens bewahrt werden, denn: „dem Gewissen zu
folgen“ meint dann für Thomas, aber auch schon für Abelard, „dem Urteil der
eigenen Vernunft zu folgen“75. In einer solchen Bindung des Gewissens an
Vernunftkriterien zeige sich, so Honnefelder, die Freiheit des Menschen.76
71 „Sciendum quippe est quod peccatum tribus modis committitur. Nam aut ignorantia, aut infir-
mitate aut Studio perpetratur. Et gravius quidem infirmitate quam ignorantia, sed multo gravius
Studio quam infirmitate peccatur.“ Gregor der Grosse, Moralia in lob, Üb. XXV, cap. XI
(28), Bd. 3, S. 1253. Zur weiteren Geschichte dieses Gedankens bis zu Abelard vgl. Ph. Del-
haye, Le probleme, S. 81-6.
72 Vgl. hierzu U. Störmer-Caysa, Gewissen und Buch, S. 64f.
73 Wilhelm schrieb in seiner Disputatio'. „Dicit per ignorantiam nullum fieri peccatum. Dicit
quoniam si ideo gentilis ludaeus contemnit fidem Christi, quia contrariam eam credit Deo, non
peccat.“ Wilhelm von St. Thierry, Disputatio adversus Petrum Abaelardum, cap. 13, S. 58.
74 „Ad tertium dicendum, quod conscientia erronea errans in his quae sunt per se mala, dictat
contraria legi Dei; sed tarnen illa quae dictat, dicit esse legem Dei. Et ideo transgressor illius
conscientiae efficitur quasi transgressor legis Dei; quamvis etiam conscientiam sequens, et eam
opere implens, contra legem Dei faciens mortaliter peccet: quia in ipso errore peccatum erat,
cum contingeret per ignorantiam eius quod scire debebat.“ Thomas von Aquin, De verdate,
qu. 17, art. 4, ra 3, ed. R. Busa, Bd. 3, S. 109 a-b. Zu anderen Passagen, in denen Thomas dieses
Argument einer Verantwortung des Einzelnen für die Korrekt- und Angemessenheit seiner
Urteile vertritt, vgl. M. Perkams, Gewissensirrtum, S. 37 und schon E. Hirsch, Lutherstudien,
Bd. 1, S. 34f.
75 L. Honnefelder, Conscientia sive Ratio, S. 13; M. Perkams, Gesetz und Gewissen, S. 126f.
76 L. Honnefelder, Conscientia sive Ratio, S. 15, unter Verweis auf Thomas’ Auslegung von II
Cor, cap. 3.1.2: „Wer die bösen Taten unterläßt, nicht weil sie böse sind, sondern weil Gott es
so geboten hat, ist nicht frei.“ (zitiert nach Honnefelder).
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auf dreierlei Weise sündigen könne: aus Unwissenheit, aufgrund von Krankheit
oder aber mit Vorsatz. Es kann kaum verwundern, dass für Gregor die letztge-
nannte die schwerste Form des Sündigens darstellte.71
Diese Sichtweise fand keinen Widerspruch, im Gegenteil: Sie wurde gerade
auch von Abelard dahingehend akzentuiert, dass Unwissenheit nicht in jedem
Fall als Entschuldigung gelten konnte, sofern diese Unwissenheit selbst eine
Sünde darstellte.72 Gegenteilige Behauptungen, wie jene des Wilhelm von
St. Thierry (f 1148), sind eher polemischer Natur und Reaktion auf die Uner-
hörtheit des von Abelard vorgebrachten Beispiels der Schuldlosigkeit jener, die
Christus gekreuzigt hatten: dass sie dies nämlich guten Gewissens getan hätten.73
Ernsthaft erschüttert werden konnte diese Sichtweise, wonach die Absicht für
die Bewertung einer Handlung entscheidend war, durch derartige Unterstellun-
gen jedoch nicht. Thomas von Aquin wies in seinem Traktat Über die Wahrheit
darauf hin, dass es sehr wohl Irrtümer gebe, die in sich sündhaft seien, weswegen
alles, was aus einer solchen Unkenntnis folge, notwendig selbst Sünde sei.74
Unter dieser Bedingung kann zugleich - vor der Prämisse von Rm 14.23 - die
Letztinstanzlichkeit des Gewissens bewahrt werden, denn: „dem Gewissen zu
folgen“ meint dann für Thomas, aber auch schon für Abelard, „dem Urteil der
eigenen Vernunft zu folgen“75. In einer solchen Bindung des Gewissens an
Vernunftkriterien zeige sich, so Honnefelder, die Freiheit des Menschen.76
71 „Sciendum quippe est quod peccatum tribus modis committitur. Nam aut ignorantia, aut infir-
mitate aut Studio perpetratur. Et gravius quidem infirmitate quam ignorantia, sed multo gravius
Studio quam infirmitate peccatur.“ Gregor der Grosse, Moralia in lob, Üb. XXV, cap. XI
(28), Bd. 3, S. 1253. Zur weiteren Geschichte dieses Gedankens bis zu Abelard vgl. Ph. Del-
haye, Le probleme, S. 81-6.
72 Vgl. hierzu U. Störmer-Caysa, Gewissen und Buch, S. 64f.
73 Wilhelm schrieb in seiner Disputatio'. „Dicit per ignorantiam nullum fieri peccatum. Dicit
quoniam si ideo gentilis ludaeus contemnit fidem Christi, quia contrariam eam credit Deo, non
peccat.“ Wilhelm von St. Thierry, Disputatio adversus Petrum Abaelardum, cap. 13, S. 58.
74 „Ad tertium dicendum, quod conscientia erronea errans in his quae sunt per se mala, dictat
contraria legi Dei; sed tarnen illa quae dictat, dicit esse legem Dei. Et ideo transgressor illius
conscientiae efficitur quasi transgressor legis Dei; quamvis etiam conscientiam sequens, et eam
opere implens, contra legem Dei faciens mortaliter peccet: quia in ipso errore peccatum erat,
cum contingeret per ignorantiam eius quod scire debebat.“ Thomas von Aquin, De verdate,
qu. 17, art. 4, ra 3, ed. R. Busa, Bd. 3, S. 109 a-b. Zu anderen Passagen, in denen Thomas dieses
Argument einer Verantwortung des Einzelnen für die Korrekt- und Angemessenheit seiner
Urteile vertritt, vgl. M. Perkams, Gewissensirrtum, S. 37 und schon E. Hirsch, Lutherstudien,
Bd. 1, S. 34f.
75 L. Honnefelder, Conscientia sive Ratio, S. 13; M. Perkams, Gesetz und Gewissen, S. 126f.
76 L. Honnefelder, Conscientia sive Ratio, S. 15, unter Verweis auf Thomas’ Auslegung von II
Cor, cap. 3.1.2: „Wer die bösen Taten unterläßt, nicht weil sie böse sind, sondern weil Gott es
so geboten hat, ist nicht frei.“ (zitiert nach Honnefelder).