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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0041
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2. Gegenstand: Das Gewissen

liehen* ist zentral auch für die Bestimmung seiner Funktion: Niklas Luhmann,
der gleichsam an den Gedanken Gregors des Grossen von der Notwendigkeit
einer ,Dauerreflexion* des eigenen Handelns anknüpfte, bemerkte hierzu:
„Es dient nicht dazu, die Persönlichkeit von ihren Taten zu distanzieren, indem es
das Verhalten nur ,vorwirft*; sondern es identifiziert die Persönlichkeit mit ihrem
Verhalten, indem es ihr zeigt, was sie ist und was sie sein kann.“101
Das Gewissen fungierte dabei für denjenigen, der sich selbst reflektierte, als Indi-
viduationsprinzip: Aus der Selbstbeobachtung erwuchs das Bewusstsein, so und
nicht anders gedacht, gefühlt, gehandelt zu haben. Besonders eindrücklich sind
hier die Formulierungen des Dominikaners und Erzbischofs Antoninus von
Florenz (f 1459), der vom Gewissen als dem Gesicht der Seele spricht, das den
Menschen einzigartig mache.102 In seinem Gewissen kann sich der Mensch nicht
vertreten lassen. Damit hatte Antoninus einen Gedanken ausgedrückt, der sich
bereits bei Origenes findet, dem zufolge sich die Herzen der Menschen ebenso
wie ihre Gesichter oder ihre Handschriften unterscheiden lassen.103
Zugleich galt es, sich selbst an den, wie Luhmann formulierte, „einverseel-
ten“104 Normen zu prüfen - in der Sprache der Scholastik: die synderesis. Über-
tragen auf die Vorstellungswelten der vita religiosa des Hohen Mittelalters be-
deutet dies, dass in der conscientia Handeln, Denken, Fühlen, Glauben und
Wissen des Menschen kumulierten; sein Wissen fiel mit dem Gottes zusammen.
Die conscientia wurde auf diese Weise zum Identitätsgenerator; ihr kam eine ins-
trumentelle Funktion zu, insofern sie Träger eines bestimmten, auf konkrete
Handlungen oder Reflexionsakte bezogenen Wissens um diese - und keine ande-
ren - Handlungen und mentalen Gegebenheiten war. Die divergierenden consci-
entiae verwiesen somit auf je verschiedenartige Inhalte, sie waren durch ihren
Bezug auf die je persönliche scientia der Menschen unterscheidbar geworden.
Aus dieser Möglichkeit der Differenzierung erwuchs ganz offensichtlich das
Bedürfnis, die als je andersartig begriffenen conscientiae gerade auch in ihren
jeweiligen Besonderheiten zu erfassen. Es war der Weg eröffnet, diese an die
Verschiedenheit der Menschen gekoppelte Ungleichartigkeit der Gewissensaus-
prägungen kategorial zu unterscheiden und somit zu systematisieren.

101 N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 285f. (358).
102 Vgl. unten S. 260, Anm. 130.
103 Vgl. P. Brown, Die Keuschheit der Engel, S. 180.
104 N. Luhmann, Die Gewissensfreiheit, S. 266 (330).
 
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