Metadaten

Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0042
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2.3 Systematisierungen: Ordnungen der Gewissensarten

41

2.3 Systematisierungen: Ordnungen der Gewissensarten
Die Komplexität der Welt drängt den Menschen seit jeher, sie zu ordnen. Nicht
allein die Vielzahl der Phänomene, sondern auch die von dieser Fülle evozierten
Eindrücke, Befindlichkeiten und Gedanken sind in ihrer bloßen Gegebenheit
kaum zu erfassen und noch weniger zu bewältigen. Als eine erfolgversprechende
Strategie, dieser Herausforderung zu begegnen, war bereits in der Antike die
kategoriale Systematisierung des relevanten Wissens etabliert worden. Alphabe-
tisch, chronologisch oder motivisch angelegte Speichersysteme konnten nicht
nur helfen, das Erkannte zusammenzutragen, sondern ermöglichten zugleich, die
Welt - aus der gewonnenen Ordnung heraus - neu zu erkennen. Von besonderer
Eindrücklichkeit sind hier zweifellos jene großen enzyklopädischen Unterneh-
mungen der Frühen Neuzeit, mit denen versucht wurde, die Welt, Mikro- wie
auch Makrokosmos, zu erfassen.105
Hinsichtlich des Grades der Differenziertheit standen die Systematisierungs-
bemühungen des Mittelalters jenen frühneuzeitlichen Entwürfen jedoch kaum
nach.106 Dies betrifft dabei nicht nur den Bereich der im engeren Sinne enzyklo-
pädischen Literatur, sondern lässt sich als Ordnungsprinzip in gleichem Maße
auch im geistlichen Schrifttum finden. Die Schriften eines Bernhard von Clair-
vaux, eines Aelred von Rievaulx (f 1167), eines Hugo oder eines Richard von
St. Viktor und zahlloser weiterer sind durchzogen von Hierarchisierungen,
Taxonomisierungen und Quantifizierungen der jeweils behandelten Begriffe und
Phänomene.107 Es kann daher nicht verwundern, wenn auch für den hier im Fo-
kus stehenden Bereich des menschlichen Gewissens komplexe Beschreibungs-
muster und Ordnungsarrangements erdacht wurden, mit deren Hilfe das, was im
Einzelfall unter Gewissen verstanden wurde, angemessen erfasst und klassifiziert
werden sollte.
Die conscientia war seit dem Mittelalter als zentraler Gegenstand innerhalb
einer kasuistisch orientierten Theologie und Moralphilosophie etabliert und für
den wissenschaftlichen Diskurs unverzichtbar geworden. Wohl jeder Blick in
den Katalog einer beliebigen Bibliothek mit hinreichender Sammlungsgeschichte
105 Vgl. hierzu u. a. W. Schmidt-Biggemann, Topica universalis-, H. Zedelmaier, Bibliotheca
Universalis.
106 Vgl. mit weiteren Hinweisen: Chr. Meier-Staubach (Hg.), Die Enzyklopädie im Wandel. Zu
Ordnungsvorstellungen, Erfahrungshorizonten und Welterfassung im Hohen Mittelalter vgl.
den gleichnamigen Aufsatz von Hagen Keller mit zahlreichen Beispielen und weiterführen-
den Überlegungen.
107 Zum Phänomen des .Gradualismus' vgl. B. Hamm, Reformation als normative Zentrierung,
S. 251-3. Vgl. auch im diachronen Überblick von Texten zum Motiv des Aufstiegs: E. Bertaud
/ A. Rayez, Echelle spirituelle.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften