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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0051
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50

2. Gegenstand: Das Gewissen

stattgefundenden Veränderungen im diachronen Vergleich auf wichtige Ent-
wicklungsprozesse hindeuten.
In der römisch-antiken Tradition wurde die conscientia noch ausschließlich als
einer Tat nachfolgend verstanden, nicht aber als antreibende, motivierende
Kraft.132 Eine vorausblickende Gewissensorientierung ist erst für das Milieu des
christlichen Nachdenkens, namentlich bei Origenes133 134, belegbar. Danach begeg-
nen durchaus immer wieder Vorstellungen einer solchen conscientia antece-
dens434, doch wird dabei die vorausschauende Perspektive des Gewissens häufig
unmittellbar mit jener zurückblickenden Orientierung einer der Handlung
nachfolgenden conscientia consequens verknüpft. Ein Gewissen aber, das auf-
grund von Erfahrung bemüht ist, schlechtes Handeln zu meiden, und das deswe-
gen dem Menschen Empfehlungen hinsichtlich seines Tuns oder Lassens gibt, ist
zuvorderst Ausdruck von Reue. Aus der Erkenntnis, in der Vergangenheit falsch
gehandelt zu haben, erwächst dem Menschen in seinem Gewissen der Vorsatz,
künftig solches Tun zu meiden. Gerade auch der Traktat Von den vier Arten der
Gewissen bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt, wenn er formuliert, dass
ein Gewissen dann gut sei, wenn es vergangene Sünden bestraft und es vermeidet,
Strafwürdiges zu begehen.135 Eine deutlich verschiedene Beurteilung der Präsenz
jener beiden Gewissensarten gab Benjamin Nelson, der meinte, dass „das mit-
telalterliche Gewissen [...] im wesentlichen prospektiv“ sei.136 Seine Einschät-
zung resultierte wohl vor allem aus einer retrospektiven Kontinuitätsunterstel-
lung bezüglich der conscientia bis in die Diskurse des 12. und 13. Jahrhunderts
hinein. Vor dem Hintergrund der in der Epoche selbst geäußerten Ansichten
zum Gewissen kann Nelsons Sicht nicht überzeugen.
Eine eigenständige konzeptionelle Bedeutung erlangte das vorausschauende
Gewissen nicht vor dem 17. Jahrhundert, als es tatsächlich auch eine von voran-
gegangener Schulderkenntnis gelöste und damit von Reue unabhängige Wei-
sungsfunktion für den Menschen erhielt.137 Heinz-Dieter Kittsteiner erkannte
in der Neuorientierung des Gewissens in der Zeitdimension ausdrücklich den
Indikator eines Mentalitätswandels: Die Frage, ob das Gewissensurteil einem
132 Vgl. R. Lindemann, Der Begriff der conscience, S. 13-5.
133 Vgl. J. Stelzenberger, Syneidesis, Conscientia, Gewissen, S. 46-57. Die Bedeutung des Orige-
nes für den spezifisch christlichen Gewissensbegriff wird auch hervorgehoben von: A. Mur-
ray, Excommunication and Conscience, S. 188f.
134 Vgl. die Quellenübersicht bei Ph. Delhaye, Le probleme, S. 73-6. Auch Jean Raulin spricht
der conscientia bereits eine prospektive Orientierung antecedens zu, vgl. unten S. 285.
135 Vgl. De quattuor modis conscientiarum, cap. II.l, unten S. 186, Z. 12f.
136 B. Nelson, Eros, S. 157.
137 Unter den hier diskutierten Autoren ist vor allem auf Francisco Palanco zu verweisen, vgl.
unten S. 331.
 
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