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4. Der Traktat De quattuor modis conscientiarum
In ähnlicher Weise begründbar wäre jedoch auch ein zweites Szenario: Gibt
man nämlich der Variante den Vorzug, die in der kartäusischen Handschrift aus
Mont-Dieu (CA) wie auch - wohl von dieser ausgehend11 - in den Druckausga-
ben zu finden ist, dann wäre der Text nicht für, sondern von einem Zisterzien-
ser verfasst worden: „editus a quodam Cisterciensi“.12 Zwar wäre ein solches
Verfassen eines literarischen Werkes regulär nur mit ausdrücklicher Erlaubnis
des Generalkapitels gestattet gewesen, doch ist die zisterziensische Literaturge-
schichte ein Beleg des glücklichen Umstandes, dass man sich hieran nicht in allen
Fällen gehalten hatte.13
In jedem Fall aber war der unbekannte Verfasser des Textes nicht nur theolo-
gisch hochgebildet, sondern zugleich auch einer, der das Lateinische mit großer
Selbstverständlichkeit und Virtuosität beherrschte. Sein Stil zeigt eine außeror-
dentliche Vertrautheit mit den Regeln des klassischen Lateins und zugleich auch
das Vermögen, auf diesen gründend, Neologismen zu prägen.14 Sein Ausdruck ist
ebenso bildhaft wie von persönlicher Anteilnahme mit dem Adressaten geprägt.
Der mit zahlreichen Bibelworten dicht durchwirkte Text zeugt insgesamt sowohl
von großem Geschick im Umgang mit der Sprache als auch einer Vertrautheit mit
den Herausforderungen der menschlichen Psyche.
Es erscheint wenig plausibel, hier an Bernhard von Clairvaux zu denken, da
dieser wohl kaum in solcher Weise anonymisiert worden wäre (und noch dazu in
einer Handschrift des 14. Jahrhunderts, als Bernhard vollends zur Chiffre für
jede Form geistlicher Mahnschriften geworden war). Bernhard selbst wird einzig
in jener zwischen 1441 und 1460 in Avignon entstandenen, heute in Rom aufbe-
wahrten Handschrift genannt: Tractatus brevis sed utilis beati Bernardi epistolaf5
Dass der Text aber tatsächlich von einem Zisterzienser verfasst wurde, erscheint
durchaus möglich. Zwar ist - wie schon erwähnt - tatsächlich keine Handschrift
aus einer zisterziensischen Bibliothek bekannt, doch sind Uberlieferungschance
und Uberlieferungszufall nie sicher zu bestimmende Größen.16 Welche Zisterze
innerhalb dieses Szenarios als Ursprungsort gelten müsste, kann jedoch nicht ge-
klärt werden. Aufgrund des sehr unspezifischen Titels De conscientia, unter dem
der Text für gewöhnlich überliefert ist, enthalten im speziellen Fall auch alte
11 Vgl. unten in Kapitel 4.3 b).
12 Vgl. unten S. 178, Anm. 2.
13 Vgl. hierzu M. Breitenstein, Das Noviziat, S. 334. In diesem Szenario wäre vielleicht auch die
Form des Briefes Teil der Strategie, das Verbot des Verfassens von Büchern zu umgehen.
14 Zu verweisen ist hier auf die Adjektive transrotatus und distentoria, die beide einzig innerhalb
dieses Textes nachweisbar sind. Interessant ist, dass der Kopist der Brüsseler Handschrift an der
Stelle, wo transrotatus hätte stehen müssen, eine Lücke im Text gelassen hat - wohl weil ihm die
Vokabel nicht bekannt war. Vgl. unten S. 204, Anm. 372.
15 Vgl. unten S. 178, Anm. 1.
16 Vgl. A. Esch, Überlieferungschance.
4. Der Traktat De quattuor modis conscientiarum
In ähnlicher Weise begründbar wäre jedoch auch ein zweites Szenario: Gibt
man nämlich der Variante den Vorzug, die in der kartäusischen Handschrift aus
Mont-Dieu (CA) wie auch - wohl von dieser ausgehend11 - in den Druckausga-
ben zu finden ist, dann wäre der Text nicht für, sondern von einem Zisterzien-
ser verfasst worden: „editus a quodam Cisterciensi“.12 Zwar wäre ein solches
Verfassen eines literarischen Werkes regulär nur mit ausdrücklicher Erlaubnis
des Generalkapitels gestattet gewesen, doch ist die zisterziensische Literaturge-
schichte ein Beleg des glücklichen Umstandes, dass man sich hieran nicht in allen
Fällen gehalten hatte.13
In jedem Fall aber war der unbekannte Verfasser des Textes nicht nur theolo-
gisch hochgebildet, sondern zugleich auch einer, der das Lateinische mit großer
Selbstverständlichkeit und Virtuosität beherrschte. Sein Stil zeigt eine außeror-
dentliche Vertrautheit mit den Regeln des klassischen Lateins und zugleich auch
das Vermögen, auf diesen gründend, Neologismen zu prägen.14 Sein Ausdruck ist
ebenso bildhaft wie von persönlicher Anteilnahme mit dem Adressaten geprägt.
Der mit zahlreichen Bibelworten dicht durchwirkte Text zeugt insgesamt sowohl
von großem Geschick im Umgang mit der Sprache als auch einer Vertrautheit mit
den Herausforderungen der menschlichen Psyche.
Es erscheint wenig plausibel, hier an Bernhard von Clairvaux zu denken, da
dieser wohl kaum in solcher Weise anonymisiert worden wäre (und noch dazu in
einer Handschrift des 14. Jahrhunderts, als Bernhard vollends zur Chiffre für
jede Form geistlicher Mahnschriften geworden war). Bernhard selbst wird einzig
in jener zwischen 1441 und 1460 in Avignon entstandenen, heute in Rom aufbe-
wahrten Handschrift genannt: Tractatus brevis sed utilis beati Bernardi epistolaf5
Dass der Text aber tatsächlich von einem Zisterzienser verfasst wurde, erscheint
durchaus möglich. Zwar ist - wie schon erwähnt - tatsächlich keine Handschrift
aus einer zisterziensischen Bibliothek bekannt, doch sind Uberlieferungschance
und Uberlieferungszufall nie sicher zu bestimmende Größen.16 Welche Zisterze
innerhalb dieses Szenarios als Ursprungsort gelten müsste, kann jedoch nicht ge-
klärt werden. Aufgrund des sehr unspezifischen Titels De conscientia, unter dem
der Text für gewöhnlich überliefert ist, enthalten im speziellen Fall auch alte
11 Vgl. unten in Kapitel 4.3 b).
12 Vgl. unten S. 178, Anm. 2.
13 Vgl. hierzu M. Breitenstein, Das Noviziat, S. 334. In diesem Szenario wäre vielleicht auch die
Form des Briefes Teil der Strategie, das Verbot des Verfassens von Büchern zu umgehen.
14 Zu verweisen ist hier auf die Adjektive transrotatus und distentoria, die beide einzig innerhalb
dieses Textes nachweisbar sind. Interessant ist, dass der Kopist der Brüsseler Handschrift an der
Stelle, wo transrotatus hätte stehen müssen, eine Lücke im Text gelassen hat - wohl weil ihm die
Vokabel nicht bekannt war. Vgl. unten S. 204, Anm. 372.
15 Vgl. unten S. 178, Anm. 1.
16 Vgl. A. Esch, Überlieferungschance.