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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0158
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4.4 Quellen und Textbezüge

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4.4 Quellen und Textbezüge
Wer schreibt, schöpft nie allein aus sich selbst. Habitualisierte gesellschaftliche
Konventionen prägen ein Werk ebenso wie rhetorische Muster; stets fließen Ge-
hörtes und Gelesenes, mithin Fremdes, in das ein, was später vielleicht als Eige-
nes gilt. Dieser Umstand bringt es mit sich, dass jeder Text Bezüge zu anderen
aufweist, dass in ihn Gedanken und zum Teil auch Formulierungen eingeflossen
sind, die Fingerzeige geben, die Spuren beleuchten, die Traditionen offenbaren.
Zitate sind dabei nur der augenfälligste Hinweis darauf, dass ein Text auf andere
bezogen ist.237
Wenn im Folgenden versucht wird, eine Übersicht jener Texte zu geben, die in
den Traktat Von den vier Arten der Gewissen eingeflossen sind und dort ihre Spu-
ren hinterlassen haben, so sind vor allem zwei Umstände zu berücksichtigen: Zum
einen ist die hier gegebene Übersicht mit hoher Wahrscheinlichkeit unvollständig,
da nicht jeder intertextuelle Bezug aufgespürt werden konnte. Zum anderen aber
verweist die Präsenz eines älteren Textes in De quattuor modis conscientiarum nicht
notwendig darauf, dass der Verfasser des Gewissenstraktats jenen anderen tatsäch-
lich gelesen hatte oder gar absichtlich zitierte. Er konnte das vermeintliche ,Zitat‘
selbst aus zweiter Hand kennen, oder es handelte sich schlicht um eine Aussage, die
zur Zeit der Entstehung des Traktats bereits losgelöst von ihrem ursprünglichen
Textzusammenhang als Redefigur oder als Sprichwort zirkulierte.238
Um ein solches parömisches Sprachbild handelt es sich zum Beispiel wohl auch
bei jener Metapher von der Abgründigkeit des Gewissens, die am Beginn des Tex-
tes steht und diesen programmatisch eröffnet: „Conscientia hominis abyssus
multa.“ (S. 180, Z. 2) Der Abgrund als solcher musste vielfältige Bilder evozieren,
die in den Texten des Alten wie des Neuen Testaments zu finden waren.239 Augus-
tinus hatte den Abgrund in den Confessiones auf seine conscientia bezogen und
damit das selbst wieder wirkmächtige Bild vom menschlichen Gewissen als eines
Abgrunds von unermesslicher Tiefe geprägt („abyssus humanae conscientiae“).240
Analoge Gedanken finden sich auch in seinem Psalmenkommentar.241
237 Vgl. hierzu mit vielen instruktiven Überlegungen und im Überblick gängiger Modelle von In-
tertextualität S. Benninghoff-Lühl, ,Figuren des Zitats1.
238 Zur Bedeutung von Sprichwörtern in der Kultur des Mittelalters vgl. die Einleitung zum Hand-
buch der Sentenzen und Sprichwörter von M. Eikelmann / S. Reuvekamp, Bd. 1.
239 Zu den biblischen Bildern vom Abgrund vgl. Th. Reinhuber, Kämpfender Glaube, S. 96. Zum
weiteren Gebrauch vgl. ebd., S. 96-9.
240 Augustinus, Confessiones, lib. X, cap. II (2) S. 155. Das Motiv vom „Abgrund des Gewissens“
findet sich unter anderem bei Konrad von Eberbach, Exordium magnum Cisterciense, dist. 2,
cap. 31, Bd. 1, S. 250, und im Hohelied-Kommentar des John of Ford, Sermo LXXII.4, S. 502.
241 Vgl. Augustinus, Enarrationes in Psalmos, In Psalmum LI.13-4, S. 470f. Ganz explizit die
Analogisierung in In Psalmum LXXVI.18, S. 1063: „Quae sunt abyssi? Altitudines aquarum.
 
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