6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen
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abgeschrieben wurde, für ein anhaltendes Interesse am Gegenstand. Ein unver-
kennbar stärkerer Ausweis der Bedeutung, die man ihm beimaß, war jedoch die
Überführung des Motivs in neue textliche Zusammenhänge, wodurch angezeigt
ist, dass man mit ihm arbeitete und es aktualisierte.
Diese Bedeutung ist zugleich Ausdruck einer Zeit, in der das Gewissen ganz
neue Beachtung auch jenseits des engeren Bereichs der vita religiosa fand, in dem
das Motiv der vier Gewissensarten seinen Ursprung hatte: Mit der im Jahr 1215
durch das Vierte Laterankonzil verkündeten allgemeinen Verpflichtung aller
Gläubigen zur mindestens einmal jährlich vor einem Priester abzulegenden
Beichte, mußte auch dem Gewissen eine neue Aufmerksamkeit zuteil werden.
Schließlich war niemand in der Lage zu beichten, wenn er sich nicht zuvor selbst
Rechenschaft über seine Sünden abgelegt hatte. Sich diese Rechenschaft zu geben,
sich selbst zu prüfen, meinte nichts anderes, als das eigene Gewissen zu erfor-
schen. Die nun kirchenrechtlich sanktionierte Beichtpflicht erwuchs zum
Impulsgeber einer Pülle von Beiträgen zur Theorie des Gewissens, die im
13. Jahrhundert entstanden; dass diese Beiträge überwiegend von Mendikanten
verfasst wurden, kann nicht nur, aber auch mit deren besonderer Einbindung in
die Seelsorge erklärt werden, die im 13. Jahrhundert eine neue Dynamik und
Offensivierung erfuhr. Alexander von Haies (f 1245), Thomas von Aquin, Bo-
naventura oder Walther von Brügge (f 1307) mögen hier nur als prominenteste
Vertreter derjenigen Lranziskaner und Dominikaner stehen, die sich in ihren
Schriften systematisch zum Gewissen äußerten.45
Neben dieser genuin akademisch-theologischen Literatur entstand jedoch
auch schon bald auch eine Vielzahl von Texten, mit denen die Absicht verbunden
wurde, das, was der Konzilskanon forderte, praktisch umzusetzen: Es mußte da-
rum gehen, die Gläubigen bei der Erforschung ihrer Gewissen anzuleiten, sie
gleichsam für sich selbst zu sensibilisieren.46 Auch für den Bereich solcher Manu-
ale hat wiederum die vita religiosa als Vorreiter zu gelten, wo schon im 12. Jahr-
hundert eine Fülle von Musterbeichten im Umlauf war. Im Traktat Vom inneren
Haus sind gleich mehrere solcher beispielhafter Dialoge integriert, die dem Leser
nicht nur eine angemessene Form für das Beichtgespräch empfehlen, sondern
ihm auch die Inhalte nahelegen sollten, auf die es ankam.47 Nicht zuletzt der
45 Zentrale Äußerungen von Thomas und Bonaventura bei U. Störmer-Caysa, Über das Gewis-
sen, S. 60-175; zu Walter von Brügge vgl. R. Hofmann, Die Gewissenslehre', zu Alexander
von Hales vgl. A. Horowski, Le questioni disputate, hier v. a. Questio 3 sowie zu dessen Be-
deutung schon O. Dietrich, Geschichte der Ethik, Bd. 3, S. 96-100.
46 Vgl. eine Übersicht derartiger Quellen bei P. Michaud-Quantin, Sommes de casuistique.
47 Es handelt sich um folgende Abschnitte von De interiori domo', capp. 16-9, 20-2 und 29-41.
Der zuletzt genannte Abschnitt ist als sogenannte Confessio Hugonis oder Confessio ad abba-
tum auch als eigener Text überliefert. Vgl. B. Haureau, Les oeuvres de Hugues de Saint-Victor,
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abgeschrieben wurde, für ein anhaltendes Interesse am Gegenstand. Ein unver-
kennbar stärkerer Ausweis der Bedeutung, die man ihm beimaß, war jedoch die
Überführung des Motivs in neue textliche Zusammenhänge, wodurch angezeigt
ist, dass man mit ihm arbeitete und es aktualisierte.
Diese Bedeutung ist zugleich Ausdruck einer Zeit, in der das Gewissen ganz
neue Beachtung auch jenseits des engeren Bereichs der vita religiosa fand, in dem
das Motiv der vier Gewissensarten seinen Ursprung hatte: Mit der im Jahr 1215
durch das Vierte Laterankonzil verkündeten allgemeinen Verpflichtung aller
Gläubigen zur mindestens einmal jährlich vor einem Priester abzulegenden
Beichte, mußte auch dem Gewissen eine neue Aufmerksamkeit zuteil werden.
Schließlich war niemand in der Lage zu beichten, wenn er sich nicht zuvor selbst
Rechenschaft über seine Sünden abgelegt hatte. Sich diese Rechenschaft zu geben,
sich selbst zu prüfen, meinte nichts anderes, als das eigene Gewissen zu erfor-
schen. Die nun kirchenrechtlich sanktionierte Beichtpflicht erwuchs zum
Impulsgeber einer Pülle von Beiträgen zur Theorie des Gewissens, die im
13. Jahrhundert entstanden; dass diese Beiträge überwiegend von Mendikanten
verfasst wurden, kann nicht nur, aber auch mit deren besonderer Einbindung in
die Seelsorge erklärt werden, die im 13. Jahrhundert eine neue Dynamik und
Offensivierung erfuhr. Alexander von Haies (f 1245), Thomas von Aquin, Bo-
naventura oder Walther von Brügge (f 1307) mögen hier nur als prominenteste
Vertreter derjenigen Lranziskaner und Dominikaner stehen, die sich in ihren
Schriften systematisch zum Gewissen äußerten.45
Neben dieser genuin akademisch-theologischen Literatur entstand jedoch
auch schon bald auch eine Vielzahl von Texten, mit denen die Absicht verbunden
wurde, das, was der Konzilskanon forderte, praktisch umzusetzen: Es mußte da-
rum gehen, die Gläubigen bei der Erforschung ihrer Gewissen anzuleiten, sie
gleichsam für sich selbst zu sensibilisieren.46 Auch für den Bereich solcher Manu-
ale hat wiederum die vita religiosa als Vorreiter zu gelten, wo schon im 12. Jahr-
hundert eine Fülle von Musterbeichten im Umlauf war. Im Traktat Vom inneren
Haus sind gleich mehrere solcher beispielhafter Dialoge integriert, die dem Leser
nicht nur eine angemessene Form für das Beichtgespräch empfehlen, sondern
ihm auch die Inhalte nahelegen sollten, auf die es ankam.47 Nicht zuletzt der
45 Zentrale Äußerungen von Thomas und Bonaventura bei U. Störmer-Caysa, Über das Gewis-
sen, S. 60-175; zu Walter von Brügge vgl. R. Hofmann, Die Gewissenslehre', zu Alexander
von Hales vgl. A. Horowski, Le questioni disputate, hier v. a. Questio 3 sowie zu dessen Be-
deutung schon O. Dietrich, Geschichte der Ethik, Bd. 3, S. 96-100.
46 Vgl. eine Übersicht derartiger Quellen bei P. Michaud-Quantin, Sommes de casuistique.
47 Es handelt sich um folgende Abschnitte von De interiori domo', capp. 16-9, 20-2 und 29-41.
Der zuletzt genannte Abschnitt ist als sogenannte Confessio Hugonis oder Confessio ad abba-
tum auch als eigener Text überliefert. Vgl. B. Haureau, Les oeuvres de Hugues de Saint-Victor,