6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen
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orden angehörte. Neben seiner Hauptreferenz, den Evangelien, griff er in der
Vita Christi auf eine kaum zu überblickende Fülle an weiteren Texten zurück.
Die naheliegende Frage, welche Bibliothek ihm bei der Ausarbeitung seines
Opus zur Verfügung stand, wurde durch Walter Baier unter anderem mit ei-
nem Hinweis auf den Straßburger Bibliothekskatalog des Jahres 1746 beant-
wortet, in dem ein Liber Florum Ludolfs Erwähnung fand.76 Dieses habe Lu-
dolf als ein über Jahre hinweg entstandener Fundus eigener Lesefrüchte
gedient. Eine Klärung der Frage, ob in dieser Blütenlese auch ein Hinweis auf
einen möglichen Referenztext hätte gefunden werden können, aus dem Lu-
dolf seine Kenntnis vom Motiv der vier Gewissensarten bezogen haben
könnte, muss offen bleiben, da über den Verbleib dieses Florilegs nichts be-
kannt ist. Weil auch in der Vita Christi selbst keine Vorlage benannt ist - für
nicht wenige Passagen gibt Ludolf diese an -,77 können hier nur Vermutun-
gen geäußert werden. Allerdings legen zahlreiche direkte textliche Parallelen
bis hin zu Übernahmen der Bibelzitate es nahe, De quattuor modis conscienti-
arum als Bezugstext Ludolfs anzunehmen.78
„Daher muß man wissen, dass das Gewissen vierfach ist, so gibt es nämlich zwei
gute und zwei schlechte [Arten]. Das erste ist gut und ruhig, und dies gehört jenem,
der vergangene Sünden bestraft, und es gewissenhaft vermeidet, [Sünden] zu bege-
hen; von ihm heißt es im Psalm: Glücklich ist der Mann, dem der Herr die Sünde
nicht angerechnet hat (Ps 31.2). Alles aber, was er selbst nach seinem Beschluss nicht
anrechnet, ist so, als wäre es nicht geschehen.
Ein zweites [Gewissen] ist gut, aber unruhig, es regt sich aber nicht in Liebe, son-
dern, sich der Sinnlichkeit erwehrend, in Bitterkeit, so dass ihm der rechte Weg hart
scheint, das Leben karg, die Vigilien lang, das Gebet ausgedehnt, die Gewänder
rauh, die Speise bäurisch, und dennoch hält es sich aus der Furcht zurück. Aber es
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„Secunda est bona, sed turbata, quae se levat,
non tarnen in dulcedine, sed in amaritudine
repugnante sensualitate, ita ut dura videatur ei
via recta, parca vita, longa vigilia, oratio proli-
xa, rudis vestis, cibus agrestis, et tarnen retinet
se freno timoris [...].“ Ludolf von Sachsen,
Vita Christi, 1.68.
Ebd. Der Eintrag im Katalog lautete: „Ludolfi, Ord. Carthus., Liber Florum M. 4“. Zitiert nach
W. Baier, Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen, S. 72. Der Katalog verbrannte wie
die gesamte Straßburger Bibliothek beim Beschuß durch preußische Truppen im Deutsch-
Französischen Krieg 1870.
Vgl. die Übersicht der Quellen des ersten Prologs und der Passionsbetrachtungen bei W. Baier,
Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen, S. 197-389.
Vgl. beispielsweise die Ausführungen zur conscientia bona et turbata'.
„Conscientia bona est, sed turbata, que nil molle,
nil fluxum recipit, sed a mundi aspergine, quanto
potest pressius se detergit, non tarnen in dulcedine,
sed in amaritudine multa. Dura videtur ei via rec-
tior, et austerior vita, sed quantumlibet dura sit, ipse
et durare eligit et perdurare. Ubique videt, quod
carni displicet, sed retinet se freno timoris Dei
[...].“ De quattuor modis conscientiarum, cap. II.2.
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orden angehörte. Neben seiner Hauptreferenz, den Evangelien, griff er in der
Vita Christi auf eine kaum zu überblickende Fülle an weiteren Texten zurück.
Die naheliegende Frage, welche Bibliothek ihm bei der Ausarbeitung seines
Opus zur Verfügung stand, wurde durch Walter Baier unter anderem mit ei-
nem Hinweis auf den Straßburger Bibliothekskatalog des Jahres 1746 beant-
wortet, in dem ein Liber Florum Ludolfs Erwähnung fand.76 Dieses habe Lu-
dolf als ein über Jahre hinweg entstandener Fundus eigener Lesefrüchte
gedient. Eine Klärung der Frage, ob in dieser Blütenlese auch ein Hinweis auf
einen möglichen Referenztext hätte gefunden werden können, aus dem Lu-
dolf seine Kenntnis vom Motiv der vier Gewissensarten bezogen haben
könnte, muss offen bleiben, da über den Verbleib dieses Florilegs nichts be-
kannt ist. Weil auch in der Vita Christi selbst keine Vorlage benannt ist - für
nicht wenige Passagen gibt Ludolf diese an -,77 können hier nur Vermutun-
gen geäußert werden. Allerdings legen zahlreiche direkte textliche Parallelen
bis hin zu Übernahmen der Bibelzitate es nahe, De quattuor modis conscienti-
arum als Bezugstext Ludolfs anzunehmen.78
„Daher muß man wissen, dass das Gewissen vierfach ist, so gibt es nämlich zwei
gute und zwei schlechte [Arten]. Das erste ist gut und ruhig, und dies gehört jenem,
der vergangene Sünden bestraft, und es gewissenhaft vermeidet, [Sünden] zu bege-
hen; von ihm heißt es im Psalm: Glücklich ist der Mann, dem der Herr die Sünde
nicht angerechnet hat (Ps 31.2). Alles aber, was er selbst nach seinem Beschluss nicht
anrechnet, ist so, als wäre es nicht geschehen.
Ein zweites [Gewissen] ist gut, aber unruhig, es regt sich aber nicht in Liebe, son-
dern, sich der Sinnlichkeit erwehrend, in Bitterkeit, so dass ihm der rechte Weg hart
scheint, das Leben karg, die Vigilien lang, das Gebet ausgedehnt, die Gewänder
rauh, die Speise bäurisch, und dennoch hält es sich aus der Furcht zurück. Aber es
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„Secunda est bona, sed turbata, quae se levat,
non tarnen in dulcedine, sed in amaritudine
repugnante sensualitate, ita ut dura videatur ei
via recta, parca vita, longa vigilia, oratio proli-
xa, rudis vestis, cibus agrestis, et tarnen retinet
se freno timoris [...].“ Ludolf von Sachsen,
Vita Christi, 1.68.
Ebd. Der Eintrag im Katalog lautete: „Ludolfi, Ord. Carthus., Liber Florum M. 4“. Zitiert nach
W. Baier, Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen, S. 72. Der Katalog verbrannte wie
die gesamte Straßburger Bibliothek beim Beschuß durch preußische Truppen im Deutsch-
Französischen Krieg 1870.
Vgl. die Übersicht der Quellen des ersten Prologs und der Passionsbetrachtungen bei W. Baier,
Untersuchungen zu den Passionsbetrachtungen, S. 197-389.
Vgl. beispielsweise die Ausführungen zur conscientia bona et turbata'.
„Conscientia bona est, sed turbata, que nil molle,
nil fluxum recipit, sed a mundi aspergine, quanto
potest pressius se detergit, non tarnen in dulcedine,
sed in amaritudine multa. Dura videtur ei via rec-
tior, et austerior vita, sed quantumlibet dura sit, ipse
et durare eligit et perdurare. Ubique videt, quod
carni displicet, sed retinet se freno timoris Dei
[...].“ De quattuor modis conscientiarum, cap. II.2.