6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen
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hunderts durch Papst Innozenz III. auch kirchenrechtlich verankerten
Rechtsprinzip.203 Für das Reich hatte der 1526 in Speyer abgehaltene Reichstag
beschlossen, dass bis zur Entscheidung eines Konzils jeder Reichsstand den
Glauben wählen durfte, den er vor Gott und dem Kaiser verantworten konnte:
„Die Reichsstände erklärten“, so pointierte Georg Schmidt, „ihre Gewissen zur
letzten Instanz in Religionsfragen.“204 Doch ist zu betonen, dass auch mit diesem
Beschluss keine Gewissensfreiheit im modernen Sinne gemeint war, sondern -
ganz im Sinne der Dekretale Innozenz’ III. - vor allem die Befreiung des Gewis-
sens durch das Evangelium.205 Es war dies eine überaus wirkmächtige Deutung,
wie noch spätere Bezüge auch aus anderen konfessionellen Zusammenhängen
nahelegen.206 Durch die Bindung des Gewissens an die Konfession seit der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden jedoch Gewissensentscheidungen überhaupt
erst offenkundig sichtbar gemacht: Kam dem Gewissen unter dem Prinzip eines
obrigkeitlich festgesetzten Glaubens doch weit eher die Funktion eines konfessio-
nellen Identitätsmarkers zu als die eines Ausdrucks menschlicher Autonomie.
Der entsprechende Zusammenhang von Konfession und Gewissen erwies sich
dabei als dauerhaft.207
Der Gedanke einer evangelischen Fundierung des Gewissens beherrschte die
Theologie in den evangelischen und reformierten Territorien des 16. Jahrhun-
derts.208 Er war jedoch als solcher nicht neu, wie Stellungnahmen schon des
12. Jahrhunderts nahelegen: Abelards Auslegung von Rm 14.23, wonach es
keine Sünde gebe, außer wenn der Mensch gegen sein Gewissen handele, gerade
weil alles, was nicht im Glauben gründe, Sünde sei, ist hier einschlägig.209 Aber
auch die Thematisierung jenes Scheiterns des Paulus im Traktat Von den vier
Arten der Gewissen, der in der Prüfung seines eigenen Gewissens versagt habe,
weil sein Wille, ganz in Gott aufzugehen, nicht stark genug gewesen sei, verweist
auf diesen Zusammenhang von Glauben und Gewissen.210 Als Kardinal Cajetan
203 Vgl. M.-D. Chenu, L’eveil de la conscience, S. 29.
204 G. Schmidt, Luther und die Freiheit, S. 177f. Zum Zusammenhang vgl. A. Kohnle,
Reichstag und Reformation, v. a. S. 266-70.
205 Vgl. hierzu v. a. R. Wohlfeil, Bedingungen der Neuzeit, S. 19. Zusammenfassend: V. Leppin,
„Gewissen“, Sp. 874. Zu den Tranformationen des Begriffs vgl. M. Patenge, Grundrecht Ge-
wissensfreiheit, v. a. S. 60-83.
206 Vgl. z. B. die entsprechende Formulierung bei Johann Heinrich Alsted unten S. 300.
207 Vgl. zur Situation im Reich die Studie von E. Wolgast, Gewissenszwang hei Konfessions-
wechsel.
208 Vgl. D. W. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 56f. Vgl. allgemein und mit Verweis auf die
entsprechende Literatur: Chr. Strohm, Ethik, S. 485-9. Zum Begriff des Gewissens bei Calvin
vgl. auch R. Lindemann, Der Begriff der conscience, S. 71-82, ebd., S. 8If. mit Betonung der
Gemeinsamkeiten in der Deutung beider.
209 Vgl. oben S. 32.
210 Vgl. De quattuor modis conscientiarum, cap. I, oben, S. 182-4.
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hunderts durch Papst Innozenz III. auch kirchenrechtlich verankerten
Rechtsprinzip.203 Für das Reich hatte der 1526 in Speyer abgehaltene Reichstag
beschlossen, dass bis zur Entscheidung eines Konzils jeder Reichsstand den
Glauben wählen durfte, den er vor Gott und dem Kaiser verantworten konnte:
„Die Reichsstände erklärten“, so pointierte Georg Schmidt, „ihre Gewissen zur
letzten Instanz in Religionsfragen.“204 Doch ist zu betonen, dass auch mit diesem
Beschluss keine Gewissensfreiheit im modernen Sinne gemeint war, sondern -
ganz im Sinne der Dekretale Innozenz’ III. - vor allem die Befreiung des Gewis-
sens durch das Evangelium.205 Es war dies eine überaus wirkmächtige Deutung,
wie noch spätere Bezüge auch aus anderen konfessionellen Zusammenhängen
nahelegen.206 Durch die Bindung des Gewissens an die Konfession seit der ersten
Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden jedoch Gewissensentscheidungen überhaupt
erst offenkundig sichtbar gemacht: Kam dem Gewissen unter dem Prinzip eines
obrigkeitlich festgesetzten Glaubens doch weit eher die Funktion eines konfessio-
nellen Identitätsmarkers zu als die eines Ausdrucks menschlicher Autonomie.
Der entsprechende Zusammenhang von Konfession und Gewissen erwies sich
dabei als dauerhaft.207
Der Gedanke einer evangelischen Fundierung des Gewissens beherrschte die
Theologie in den evangelischen und reformierten Territorien des 16. Jahrhun-
derts.208 Er war jedoch als solcher nicht neu, wie Stellungnahmen schon des
12. Jahrhunderts nahelegen: Abelards Auslegung von Rm 14.23, wonach es
keine Sünde gebe, außer wenn der Mensch gegen sein Gewissen handele, gerade
weil alles, was nicht im Glauben gründe, Sünde sei, ist hier einschlägig.209 Aber
auch die Thematisierung jenes Scheiterns des Paulus im Traktat Von den vier
Arten der Gewissen, der in der Prüfung seines eigenen Gewissens versagt habe,
weil sein Wille, ganz in Gott aufzugehen, nicht stark genug gewesen sei, verweist
auf diesen Zusammenhang von Glauben und Gewissen.210 Als Kardinal Cajetan
203 Vgl. M.-D. Chenu, L’eveil de la conscience, S. 29.
204 G. Schmidt, Luther und die Freiheit, S. 177f. Zum Zusammenhang vgl. A. Kohnle,
Reichstag und Reformation, v. a. S. 266-70.
205 Vgl. hierzu v. a. R. Wohlfeil, Bedingungen der Neuzeit, S. 19. Zusammenfassend: V. Leppin,
„Gewissen“, Sp. 874. Zu den Tranformationen des Begriffs vgl. M. Patenge, Grundrecht Ge-
wissensfreiheit, v. a. S. 60-83.
206 Vgl. z. B. die entsprechende Formulierung bei Johann Heinrich Alsted unten S. 300.
207 Vgl. zur Situation im Reich die Studie von E. Wolgast, Gewissenszwang hei Konfessions-
wechsel.
208 Vgl. D. W. Sabean, Das zweischneidige Schwert, S. 56f. Vgl. allgemein und mit Verweis auf die
entsprechende Literatur: Chr. Strohm, Ethik, S. 485-9. Zum Begriff des Gewissens bei Calvin
vgl. auch R. Lindemann, Der Begriff der conscience, S. 71-82, ebd., S. 8If. mit Betonung der
Gemeinsamkeiten in der Deutung beider.
209 Vgl. oben S. 32.
210 Vgl. De quattuor modis conscientiarum, cap. I, oben, S. 182-4.