Metadaten

Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0346
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
6.2 Bearbeitungen, Zitate und Paraphrasen

345

kam dabei die Funktion einer geistlichen Übung zu,504 während der man anti-
zipierend die zugedachten Qualen auf sich zu nehmen hatte: In der Prüfung des
eigenen Gewissens vermochte der Mensch die Schmerzen des Purgatoriums vor-
wegzunehmen, weil er sich hier seiner Schuldhaftigkeit und Gottesferne bewusst
werden konnte. Das wahre Fegefeuer, das den Menschen nach seinem Tod erwar-
tete, war nach Meinung der Zeit ein Ort, an dem der Mensch selbst nichts mehr
zur Besserung des eigenen Zustandes beitragen konnte - hier war er ausschließ-
lich auf die Fürbitten der Lebenden angewiesen.505
Die Gewissensprüfung wurde so für Leon de Saint-Laurent zum entschei-
denden Schritt einer Bewusstwerdung eigenen Versagens und zur ,purgatori-
schen‘ Empfindung einer Gottesferne, die - weil man ja noch am Leben war -
durch eigenes Handeln in Gottesnähe gewandelt werden konnte.
e) 18. Jahrhundert
Die Blüte der Kasuistik, jenes Suchens nach moralischen Auswegen im Einzel-
fall, begann im 18. Jahrhundert deutlich zu welken.506 Die seit dem Ende der
Regentschaft Ludwigs XIV. erneut einsetzende Konjunktur moraltheologischen
Schrifttums in Frankreich mit ihrem Schwerpunkt auf Gewissensfragen gründete
bereits auf einem deutlich erweiterten Feld von Genres als noch jene im Jahrhun-
dert zuvor.507 Statt um die bloße Sammlung möglichst vieler verschiedener Kasus,
ging es nun vermehrt darum, allgemeingültige moralische Normen zu entwi-
ckeln, die generelle Regeln zur Beantwortung von Gewissensfragen boten. Dies
sorgte auch weiterhin für einen erstaunlichen Absatz auf dem Buchmarkt, der
damit anhaltend hohe Einkünfte versprach.508
Mit diesem langsamen Niedergang der Casus conscientiae kam zugleich jene
zuvor erkennbare Tendenz der Verrechtlichung des Gewissens an ihr Ende, und
es sind stattdessen Prozesse einer Trennung von Recht und Ethik zu beobach-
504 In diesem Sinne und auf die Hölle bezogen: G. Minois, Die Hölle, S. 278-83.
505 Vgl. hierüber pars pro toto die Ausführungen des Jesuiten Nicholas Caussin innerhalb seines
Werkes La Cour Sainte, das seit 1638 in Dutzenden Auflagen und Übersetzungen in alle großen
europäischen Sprachen erschien. Ich beutzte die 1676 erschienene deutsche Übersetzung: N.
Caussin, Heilige Hofhaltung, Bd. 3, S. 298f. Zur Diskussion dieser Frage im frühneuzeitlichen
England vgl. Ph. C. Almond, Heaven and Hell, S. 67-72.
506 Vgl. K. E. Kirk, Conscience, S. 203, der sogar von einem ,sudden death‘ der Kasuistik spricht.
Ganz so plötzlich ging das Ende aber nicht vonstatten, wie auch die Ausführungen Kittstei-
ners nahelegen: H. D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, S. 204-15.
Kittsteiner beschreibt und analysiert den Widerstreit von kasuistischer Moraltheologie und
Aufklärung in: Gewissen und Geschichte, S. 119-70.
507 J. McManners, Church and Society, Bd. 1, S. 679. Vgl. oben S. 290f.
508 Vgl. H.-J. Martin, Livre, pouvoirs et societe, Bd. 2, S. 907-21.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften