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6. Rezeptionen und Wirkungen
sehen,629 forensische Bilder wurden weiter gepflegt.630 Zahlreich aber waren auch
die Innovationen: Darwin sprach allen in sozialen Formationen Lebenden, mithin
auch Tieren, ein Gewissen zu.631 Für Nietzsche war das schlechte Gewissen Ma-
nifestation des Leidens des Menschen an sich selbst und überhaupt jedes Gewis-
sen genetisch Ausdruck einer Schuldbeziehung.632 Auch wurde das Gewissen nun
(wenn auch metaphorisch) als „Organ“ bezeichnet, womit man wohl nicht zu-
letzt den zeitgleich aufblühenden Naturwissenschaften Rechnung trug.633
Zugleich setzte im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum auch eine histo-
risch-systematische Forschung zum Gegenstand ein.634 In diesem Zusammenhang
fand das Ordnungsschema der vier Gewissensarten jedoch keine Erwähnung. Die-
ses Fehlen ist wohl nicht zuletzt auf sich formierende neoscholastische, speziell
neothomistische Tendenzen innerhalb der zeitgenössischen Theologie- und Philo-
sophiegeschichtsschreibung zurückzuführen, für die ein Bernhard von Clair-
vaux von geringer Bedeutung war.635 Die Dominanz der thomistischen Schule in
dieser Zeit kann wohl zugleich als eine der Hauptursachen für die Gewichtung
noch der historischen Darstellungen des 20. Jahrhunderts gesehen werden.636
Gleichwohl war der Traktat Von den vier Arten der Gewissen selbst nicht in
Vergessenheit geraten und galt 1885 für den späteren Kölner Erzbischof Hubert
Simar (f 1902) bereits als typisches Zeugnis der Gewissensliteratur des 12. Jahr-
hunderts.637 Durch eben diese Typik aber - „ascetische Belehrung über das Ge-
629 So von Schleiermacher, vgl. V. Leppin, „ Gewissen“, Sp. 875; A. Weyer, „ Gewissen IV“, S. 228;
Zu diesem Bild in katechetischen Schriften des 19. Jhs. vgl. Chr. Handschuh, Die wahre Auf-
klärung, S. 49.
630 Vgl. A. Weyer, „ Gewissen IV“, S. 228.
631 Vgl. J. Stelzenberger, Syneidesis, Conscientia, Gewissen, S. 114.
632 Fr. Nietzsche, Genealogie der Moral, 11.16, S. 323.
633 Vgl. A. Weyer, „Gewissen IV“, S. 228. Vgl. auch bei W. Gass, Gewissen, S. 108, 116, 121, 124,
mit Bedenken S. 129. Weitere Stellen sind zu finden.
634 Vgl. - um nur einige wenige anzuführen - die Arbeiten von C. F. Stäudlin, Geschichte der
Lehre von dem Gewissen (1824); R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. 2 (1845); R. Hofmann,
Die Lehre von dem Gewissen (1866); W. Gass, Gewissen (1869). Allgemein zu den medialen
Rahmenbedingungen der Frömmigkeit im 19. Jh. vgl. R. Schlögl, Alter Glaube, S. 284-91.
635 Zu den neuscholastischen Strömungen vgl. im Überblick R. Del Colle, Neo Scholasticism.
Zur Neuscholastik als spezifischer Mittelalterimagination vgl. mit zahlreichen weiteren Aspek-
ten und Hinweisen F. Rexroth, Die scholastische Wissenschaft, S. 122-7. Einer der wenigen
Autoren, die Bernhard überhaupt berücksichtigten, war bspw. Albert Stöcke, Geschichte der
Philosophie, Bd. 1, S. 293-304, der diesen vergleichsweise ausführlich diksutierte. Zu diesem
Werk und seiner Bedeutung vgl. J. Inglis, Spheres of Philosophical Inquiry, S. 105-36. Vgl. ebd.,
S. 17-104, auch umfassend zur Philosophiegeschichte der ersten Hälfte des 19. Jhs.
636 Vgl. oben S. 16, Anm. 18, sowie v. a. die Darstellung von W. Kluxen, Die geschichtliche Erfor-
schung sowie M. L. Colish, Remapping Scholasticism.
637 In seiner „Lehre vom Wesen des Gewissens“ wird der Traktat neben dem Vom inneren Haus
und dem des Petrus Cellensis eigens erwähnt, jedoch: „Sie enthalten [...] ausschliesslich
6. Rezeptionen und Wirkungen
sehen,629 forensische Bilder wurden weiter gepflegt.630 Zahlreich aber waren auch
die Innovationen: Darwin sprach allen in sozialen Formationen Lebenden, mithin
auch Tieren, ein Gewissen zu.631 Für Nietzsche war das schlechte Gewissen Ma-
nifestation des Leidens des Menschen an sich selbst und überhaupt jedes Gewis-
sen genetisch Ausdruck einer Schuldbeziehung.632 Auch wurde das Gewissen nun
(wenn auch metaphorisch) als „Organ“ bezeichnet, womit man wohl nicht zu-
letzt den zeitgleich aufblühenden Naturwissenschaften Rechnung trug.633
Zugleich setzte im 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum auch eine histo-
risch-systematische Forschung zum Gegenstand ein.634 In diesem Zusammenhang
fand das Ordnungsschema der vier Gewissensarten jedoch keine Erwähnung. Die-
ses Fehlen ist wohl nicht zuletzt auf sich formierende neoscholastische, speziell
neothomistische Tendenzen innerhalb der zeitgenössischen Theologie- und Philo-
sophiegeschichtsschreibung zurückzuführen, für die ein Bernhard von Clair-
vaux von geringer Bedeutung war.635 Die Dominanz der thomistischen Schule in
dieser Zeit kann wohl zugleich als eine der Hauptursachen für die Gewichtung
noch der historischen Darstellungen des 20. Jahrhunderts gesehen werden.636
Gleichwohl war der Traktat Von den vier Arten der Gewissen selbst nicht in
Vergessenheit geraten und galt 1885 für den späteren Kölner Erzbischof Hubert
Simar (f 1902) bereits als typisches Zeugnis der Gewissensliteratur des 12. Jahr-
hunderts.637 Durch eben diese Typik aber - „ascetische Belehrung über das Ge-
629 So von Schleiermacher, vgl. V. Leppin, „ Gewissen“, Sp. 875; A. Weyer, „ Gewissen IV“, S. 228;
Zu diesem Bild in katechetischen Schriften des 19. Jhs. vgl. Chr. Handschuh, Die wahre Auf-
klärung, S. 49.
630 Vgl. A. Weyer, „ Gewissen IV“, S. 228.
631 Vgl. J. Stelzenberger, Syneidesis, Conscientia, Gewissen, S. 114.
632 Fr. Nietzsche, Genealogie der Moral, 11.16, S. 323.
633 Vgl. A. Weyer, „Gewissen IV“, S. 228. Vgl. auch bei W. Gass, Gewissen, S. 108, 116, 121, 124,
mit Bedenken S. 129. Weitere Stellen sind zu finden.
634 Vgl. - um nur einige wenige anzuführen - die Arbeiten von C. F. Stäudlin, Geschichte der
Lehre von dem Gewissen (1824); R. Rothe, Theologische Ethik, Bd. 2 (1845); R. Hofmann,
Die Lehre von dem Gewissen (1866); W. Gass, Gewissen (1869). Allgemein zu den medialen
Rahmenbedingungen der Frömmigkeit im 19. Jh. vgl. R. Schlögl, Alter Glaube, S. 284-91.
635 Zu den neuscholastischen Strömungen vgl. im Überblick R. Del Colle, Neo Scholasticism.
Zur Neuscholastik als spezifischer Mittelalterimagination vgl. mit zahlreichen weiteren Aspek-
ten und Hinweisen F. Rexroth, Die scholastische Wissenschaft, S. 122-7. Einer der wenigen
Autoren, die Bernhard überhaupt berücksichtigten, war bspw. Albert Stöcke, Geschichte der
Philosophie, Bd. 1, S. 293-304, der diesen vergleichsweise ausführlich diksutierte. Zu diesem
Werk und seiner Bedeutung vgl. J. Inglis, Spheres of Philosophical Inquiry, S. 105-36. Vgl. ebd.,
S. 17-104, auch umfassend zur Philosophiegeschichte der ersten Hälfte des 19. Jhs.
636 Vgl. oben S. 16, Anm. 18, sowie v. a. die Darstellung von W. Kluxen, Die geschichtliche Erfor-
schung sowie M. L. Colish, Remapping Scholasticism.
637 In seiner „Lehre vom Wesen des Gewissens“ wird der Traktat neben dem Vom inneren Haus
und dem des Petrus Cellensis eigens erwähnt, jedoch: „Sie enthalten [...] ausschliesslich