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Breitenstein, Mirko
Vier Arten des Gewissens: Spuren eines Ordnungsschemas vom Mittelalter bis in die Moderne : mit Edition des Traktats De quattuor modis conscientiarum — Klöster als Innovationslabore, Band 4: Regensburg: Schnell + Steiner, 2017

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https://doi.org/10.11588/diglit.49623#0383
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382

6. Rezeptionen und Wirkungen

Ratte dabei im Verlauf seiner Diskussion des Problems der Einheit des Men-
schen mit sich selbst. Damit steht er in einer klaren Tradition der Deutung des
Gewissensmotivs, insofern auch die hier bereits vorgestellten Jean Raulin und
Michel Vivien den gleichen Interpretationszusammenhang wählten.676 Ohne
Einheit mit sich selbst könne man, so Ratte, weder die Einheit mit Gott noch die
mit dem Menschen bewahren. Um aber zum Frieden mit sich selbst zu kommen,
bedürfe man nichts weiter als der Ruhe des Gewissens.677 Dieser Zustand der
Gewissensruhe führt Ratte unmittelbar zu Bernhard von Clairvaux und
dessen Predigt vom Vierfachen Gewissen:
„Nach dem heil. Bernard gibt es ein Gewissen, das gut und doch nicht ruhig ist,
nämlich das Gewissen Derjenigen, die sich aufrichtig zum Herrn bekehrt haben,
aber noch in der Bitterkeit ihres Herzens an die verlorenen Jahre denken. Das ist die
gute Stimmung frommer Büßer in der ersten Periode nach ihrer Rückkehr zu Gott.
[...] Es gibt auch ein Gewissen, welches ruhig, aber doch nicht gut ist, das ist die
trügerische Hoffnung Jener, welche sündigen und dann sich selbst trösten, daß Gott
gütig sei und auf ihre Fehler nicht so strenge Acht geben werde. Eine dritte Art von
Gewissen ist weder gut noch ruhig - sie (die ein solches Gewissen haben) sehen die
Menge ihrer Sünden und bösen Neigungen und verzweifeln an einer gründlichen
Besserung. Endlich bleibt das Gewissen, welches gut und ruhig ist; es ist der Antheil
Jener, die wirklich brav sind, die das Fleisch dem Geiste unterworfen halten, die den
Frieden bewahren selbst mit denen, welche den Frieden hassen.“678
Bernhards Schriften zählten zu den am häufigsten zitierten innerhalb der Prak-
tischen Ascese. Insofern ist sein Rekurs auf diese Predigt für sich genommen kaum
bemerkenswert. Auffällig ist schon eher, dass er sie nicht im Zusammenhang sei-
ner „Conferenz“ über das Gewissen heranzieht, sondern hier zum Gegenstand
der menschlichen Sozialität. Für Ratte war die in der Ruhe des Gewissens grün-
dende Seelenruhe des Menschen Voraussetzung seines angemessenen und - im
speziellen Fall des Publikums seiner Vorträge - priesterlichen Wirkens in der
Welt. Wie bereits erwähnt, findet sich dieser Zusammenhang bereits bei Raulin
und Vivien. Während diese beiden jedoch noch mit dem Viererschema arbeiteten,
es modifizierten und ihren Absichten anpassten, zitierte der Redemptorist seinen
Bernhard einzig zur Illustration. Das Motiv der vier Gewissensarten hatte ganz
offensichtlich den Status eines historischenVersatzstückes erlangt.

676 Für Jean Raulin vgl. oben S. 284, für Michel Vivien vgl. S. 326.
677 „Zu unsern persönlichen Frieden aber brauchen wir nur für die Befriedigung und somit für die
Ruhe unseres Gewissens zu sorgen.“ Fr. Ratte, Praktische Ascese, S. 78.
678 Ebd., S. 78f.
 
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