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7. Schlussbemerkungen
sollte sich der Mensch in gleicher Weise Rechenschaft über sein Leben geben, wie
Gott dies dereinst tun würde.
Und doch blieb jene Unsicherheit, die dem Traktat Von den vier Arten der
Gewissen zufolge schon Paulus überkam: Der Apostel versagte bei der Erfor-
schung seines Gewissens, weil er das Urteil Gottes eben nicht in letzter Tiefe zu
antizipieren vermochte.10 Aus dieser Unsicherheit, aus dieser Ungewissheit des
Menschen über sein eigenes Seelenheil erwuchs jedoch ein dynamisches Moment;
es musste darum gehen, in jene letzte Tiefe des eigenen Inneren vorzudringen, die
zu erreichen dem Paulus versagt geblieben war. Die Fülle der seit dem 12. Jahr-
hundert entstandenen Werke zur geistlichen Progression,11 die Versuche, Intros-
pektionstechniken zu rationalisieren12 und spirituelle Identitäten zu konstruie-
ren,13 führten in der Folge zwar nicht in jedem Fall zu Heilsgewissheit, aber zu
einer weitreichenden Dynamik - einer Dynamik der Entwicklung und Etablie-
rung kultureller Techniken, späterhin Konfessionen, die in ihren Konjunkturen,
in ihren Abfolgen ebenso wie in ihren Gleichzeitigkeiten frappante Ausdrucks-
formen einer individualisierten, aus dem je eigenen Gewissen erwachsenden
Heilssuche waren.
Für Ignatius von Loyola diente jede Form geistlicher Übung keinem
anderen Zweck als der Erforschung des eigenen Gewissens.14 Seine Exercitia spi-
ritualia sind dabei Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zu rationalisiert-metho-
discher Introspektion. Nicht ohne Grund firmiert die planvolle Gewissenserfor-
schung bei den Jesuiten unter dem Titel Ratio conscientiaef5 womit entsprechende
Tendenzen der mittelalterlichen Tradition aufgegriffen und methodisch verdich-
tet wurden. „Handlungszwang und Zeitökonomie“, so formulierte Alois Hahn
mit Blick auf das 17. Jahrhundert, „erhalten ihre existentielle Dringlichkeit ge-
rade vor dem Horizont eines Rechenschaft fordernden Gewissens. [...] die Aus-
nützung der Zeit [steht], und zwar jeden Augeblick des Lebens, im Dienst der
Selbstvergewisserung über den Gnadenstand.“16
Was im 12. Jahrhundert als Elitenphänomen begegnete - die regelmäßige und
umfassende Erforschung des eigenen Gewissens - das wurde nachfolgend zu
einer allgemein akzeptierten und weit verbreiteten Praxis. Thomas Nipperdey
bezeichnete das Gewissen ganz zu Recht als eines der prägenden Momente, das
10 Vgl. De quattuor modis conscientiarum, cap. 1, S. 184, Z. 14-8.
11 Vgl. hierzu die oben S. 76, Anm. 71 genannten Arbeiten.
12 Vgl. G. Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung', G. Melville, Im Spannungsfeld.
13 Vgl. beispielsweise Chr. Schmidt, Andacht und Identität.
14 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 1, S. 92f.
15 Vgl. M. Friedrich, Der lange Arm, S. 249-51.
16 A. Hahn, Religion und Welt, S. 100.
7. Schlussbemerkungen
sollte sich der Mensch in gleicher Weise Rechenschaft über sein Leben geben, wie
Gott dies dereinst tun würde.
Und doch blieb jene Unsicherheit, die dem Traktat Von den vier Arten der
Gewissen zufolge schon Paulus überkam: Der Apostel versagte bei der Erfor-
schung seines Gewissens, weil er das Urteil Gottes eben nicht in letzter Tiefe zu
antizipieren vermochte.10 Aus dieser Unsicherheit, aus dieser Ungewissheit des
Menschen über sein eigenes Seelenheil erwuchs jedoch ein dynamisches Moment;
es musste darum gehen, in jene letzte Tiefe des eigenen Inneren vorzudringen, die
zu erreichen dem Paulus versagt geblieben war. Die Fülle der seit dem 12. Jahr-
hundert entstandenen Werke zur geistlichen Progression,11 die Versuche, Intros-
pektionstechniken zu rationalisieren12 und spirituelle Identitäten zu konstruie-
ren,13 führten in der Folge zwar nicht in jedem Fall zu Heilsgewissheit, aber zu
einer weitreichenden Dynamik - einer Dynamik der Entwicklung und Etablie-
rung kultureller Techniken, späterhin Konfessionen, die in ihren Konjunkturen,
in ihren Abfolgen ebenso wie in ihren Gleichzeitigkeiten frappante Ausdrucks-
formen einer individualisierten, aus dem je eigenen Gewissen erwachsenden
Heilssuche waren.
Für Ignatius von Loyola diente jede Form geistlicher Übung keinem
anderen Zweck als der Erforschung des eigenen Gewissens.14 Seine Exercitia spi-
ritualia sind dabei Ausdruck einer allgemeinen Tendenz zu rationalisiert-metho-
discher Introspektion. Nicht ohne Grund firmiert die planvolle Gewissenserfor-
schung bei den Jesuiten unter dem Titel Ratio conscientiaef5 womit entsprechende
Tendenzen der mittelalterlichen Tradition aufgegriffen und methodisch verdich-
tet wurden. „Handlungszwang und Zeitökonomie“, so formulierte Alois Hahn
mit Blick auf das 17. Jahrhundert, „erhalten ihre existentielle Dringlichkeit ge-
rade vor dem Horizont eines Rechenschaft fordernden Gewissens. [...] die Aus-
nützung der Zeit [steht], und zwar jeden Augeblick des Lebens, im Dienst der
Selbstvergewisserung über den Gnadenstand.“16
Was im 12. Jahrhundert als Elitenphänomen begegnete - die regelmäßige und
umfassende Erforschung des eigenen Gewissens - das wurde nachfolgend zu
einer allgemein akzeptierten und weit verbreiteten Praxis. Thomas Nipperdey
bezeichnete das Gewissen ganz zu Recht als eines der prägenden Momente, das
10 Vgl. De quattuor modis conscientiarum, cap. 1, S. 184, Z. 14-8.
11 Vgl. hierzu die oben S. 76, Anm. 71 genannten Arbeiten.
12 Vgl. G. Wieland, Rationalisierung und Verinnerlichung', G. Melville, Im Spannungsfeld.
13 Vgl. beispielsweise Chr. Schmidt, Andacht und Identität.
14 Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 1, S. 92f.
15 Vgl. M. Friedrich, Der lange Arm, S. 249-51.
16 A. Hahn, Religion und Welt, S. 100.