Einleitung
Geschichte und Nachleben Assurs und Assyriens
Zu den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm gehört die
Geschichte vom Fischer und seiner Frau. Ein armer Fischer
fängt einen Butt, befördert ihn jedoch ins Wasser zurück, nach-
dem dieser ihm erklärt, er sei in Wirklichkeit ein verwunschener
Prinz. Als die Frau des Fischers nach dessen Heimkehr von dem
Geschehenen erfährt, schilt sie ihren Mann und verlangt von
ihm, er solle zur See zurückkehren und sich von dem Butt als
Belohnung für seine Großzügigkeit ausbedingen, daß er die alte
Hütte, in der die beiden wohnen, in ein stattliches Haus verwan-
deln möge. Der Fischer geht, und der Butt erfüllt ihm den
Wunsch. Doch die Frau ist nicht zufrieden; sie will als nächstes
in einem Palast wohnen, dann König, Kaiser und schließlich
sogar Papst werden. Jedesmal geht der Fischer zurück zur See,
die immer aufgewühlter ist, und jedesmal willfahrt ihm der Butt.
Zuletzt jedoch, als die Frau, nunrnehr Päpstin und Herrin über
die Welt, verlangt, wie Gott zu sein, sagt der Butt, während ein
ungeheurer Sturm über das Meer peitscht, zu dem Fischer: „Geh
nur, sie sitzt schon wieder in der alten Hütte." Und dort, so endet
die Geschichte, säßen der Fischer und seine Frau noch heute. 1
Mit einigem Recht kann man das Märchen vom Fischer und
seiner Frau als ein Gleichnis der assyrischen Geschichte lesen.
Was später einmal „Assyrien" werden sollte, war ursprünglich,
im 3. Jahrtausend v. Chr., nichts weiter als ein kleiner, von ande-
ren Mächten abhängiger Stadtstaat, der aus einer Assur 2 gehei-
ßenen bescheidenen Siedlung auf einer Felsnase über dem Tigris
hervorgegangen war. Im frühen 2. Jahrtausend entwickelte sich
dieses politische Gebilde zunächst zu einem überregionalen
Handelszentrum, wuchs dann seit dem 14. Jahrhundert zu einem
mächtigen Territorialstaat heran, der Gleichrangigkeit mit
Babylonien, dem Hethiterreich und Ägypten beanspruchen
konnte, erfuhr vom 9. Jahrhundert an eine Transformation zum
behenschenden Imperium der gesamten vorderasiatischen Welt
- und wurde schließlich innerhalb weniger Jahre, zwischen 616
und 609 v. Chr., durch die Streitkiäfte einer Koalition von
Babyloniern und Medern fast vollständig von der Landkarte
hinweggefegt. 3 Nur in der Stadt Assur selbst, wo alles seinen
1 Für Anmerkungen zur Geschichte der im Märchen vom Fischer und seiner
Frau ausgesponnenen Motive siehe H. Rölleke, in: K. Ranke (Hrsg.), Enzy-
klopädie des Märchens, Bd. 4, 1232-40.
2 Im folgenden differenziere ich, einer auch sonst geübten Praxis folgend, zwi-
schen "Assur”, der Stadt, und „Assur", dem Gott, obwohl im Assyrischen so-
wohl das eine wie auch das andere - ebenso wie das Land Assyrien - „Assur"
(bzw., mit S. Parpola, PNA 1/1, XXV, „Assür") genannt wurde.
3 Eine modemen Ansprüchen genügende umfassende „Geschichte Assyriens"
von den Anfängen bis zu seinem Untergang bleibt ein Desiderat der For-
schung. A. T. Olmsteads History ofAssyria von 1923 ist veraltet, W. Mayers
1995 erschienenes Werk Politik und Kriegskunst der Assyrer beschäftigt sich
lediglich mit der assyrischen Militärgeschichte, und E. Cancik-Kirschbaums
Die Assyrer: Geschichte, Gesellschaft, Kultur von 2003 beschränkt sich auf
einen äußerst knappen Überblick. Auch die Assyrien gewidmeten Passagen
in Gesamtdarstellungen der Geschichte Mesopotamiens, etwa in A. Kuhrts
The Ancient Near East ca. 3000-330 BC, 81-95, 348-65, 473-546, bleiben
Ausgang genommen hatte, blieben Elemente der assyrischen
Religion und Kultur in bescheidener Form noch mehrere
Jahrhunderte lang lebendig. 4
Natürlich macht sich einer gewissen Vereinfachung schul-
dig, wer Assyriens Geschichte als einen geradlinig verlaufenden
wundersamen Aufstieg darstellt, der schließlich ein abmptes,
wenn auch von einer schattenhaften Coda gefolgtes Ende findet.
Der assyrische Staat erlebte zwischenzeitlich, etwa im zweiten
Viertel des 2. Jahrtausends oder in der Zeit um 1000 v. Chr.,
immer wieder auch Phasen des Niedergangs, die zeitweilig
sogar seine Unabhängigkeit gefährdeten. Aufs Ganze gesehen
jedoch erscheinen Assyriens vermeintlich unaufhaltsame
Expansion und der ihr folgende plötzliche und fast totale
Zusammenbruch den Geschicken des Grimmschen Fischerpaares
tatsächlich sehr ähnlich. Und wenn man die Opfer der assyri-
schen Machterweiterungspolitik betrachtet, die Länder und
Menschen, die nach und nach unter assyrische Oberhenschaft
gerieten, so kann man eine weitere Analogie mit dem Märchen
ausmachen: In Assyriens Drang zu universaler Dominanz mani-
festierte sich für sie jener Hochmut, der, so wie es der Leser des
Märchens im Falle der Fischersfrau empfindet, vor dem wohl-
verdienten und unvermeidlichen Fall kommt.
Unser wichtigstes Zeugnis einer solchen Sichtweise ist die
hebräische Bibel, in der von „Assur" - womit in der Regel
Assyrien und niemals die gleichnamige Stadt gemeint ist - nicht
weniger als 142 Mal die Rede ist. 5 An vielen Stellen kiitisieren
biblische Autoren die in ihren Augen gotteslästerliche Hybris,
mit der die assyrischen Könige ihren Weltherrschaftsanspruch
durchzusetzen suchten. So heißt es etwa in Jesaja 10:12-13:
Ich (Gott) will heimsuchen die Fmcht des Hochmuts des
Königs von Assyrien und den Stolz seiner hoffärtigen
Augen, weil er spricht: „Ich hab’s durch meiner Hände
Kraft ausgerichtet und durch meine Weisheit, denn ich bin
klug. Ich habe die Grenzen der Länder anders gesetzt und
skizzenhaft. Es liegen jedoch zahlreiche detaillierte Studien vor, die sich mit
einzelnen Epochen der assyrischen Geschichte beschäftigen. Auch nur die
wichtigsten hier aufzuzählen, würde zu weit führen, doch seien beispielhaft
zumindest A. K. Graysons Beiträge zur neuassyrischen Zeit in CAH 3/1 2,
238-81 und CAH 3/2 2, 71-161 genannt. Eine relativ rezente Bibliographie
einschlägiger Studien zu dieser besonders reich dokumentierten Epoche bietet
M. Fales, L’impero assiro (2001), 359-96. Der in den letzten dreißig Jahren
zu verzeichnende gewaltige Zuwachs an Textmaterial aus allen Perioden der
assyrischen Geschichte hat unsere Kenntnis derselben erheblich erweitert, zu-
gleich jedoch die Etablierung historischer Synthesen zu einem risikoreichen,
da aufgrund neuerschlossener Quellen beständig revisionsbedürftigen Unter-
nehmen gemacht.
4 Zur Geschichte Assyriens in „postassyrischer” Zeit siehe S. Dalley, AoF 20
(1993), 134-47; zu Assur während der Partherzeit W. Andrae - H. Lenzen,
Die Partherstadt Assur (1933). Die aramäischen Inschriften aus Assur aus
dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. - in denen noch immer von Assur und Serua
die Rede ist - wurden 1998 von K. Beyer, Die aramäischen Inschriften aus
Assur, Hatra und dem iibrigen Ostmesopotamien, 11-25 ediert.
5 Für knappe Anmerkungen zum biblischen Assyrien-Bild siehe Verf., CDOG
5 (im Druck).
Geschichte und Nachleben Assurs und Assyriens
Zu den bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm gehört die
Geschichte vom Fischer und seiner Frau. Ein armer Fischer
fängt einen Butt, befördert ihn jedoch ins Wasser zurück, nach-
dem dieser ihm erklärt, er sei in Wirklichkeit ein verwunschener
Prinz. Als die Frau des Fischers nach dessen Heimkehr von dem
Geschehenen erfährt, schilt sie ihren Mann und verlangt von
ihm, er solle zur See zurückkehren und sich von dem Butt als
Belohnung für seine Großzügigkeit ausbedingen, daß er die alte
Hütte, in der die beiden wohnen, in ein stattliches Haus verwan-
deln möge. Der Fischer geht, und der Butt erfüllt ihm den
Wunsch. Doch die Frau ist nicht zufrieden; sie will als nächstes
in einem Palast wohnen, dann König, Kaiser und schließlich
sogar Papst werden. Jedesmal geht der Fischer zurück zur See,
die immer aufgewühlter ist, und jedesmal willfahrt ihm der Butt.
Zuletzt jedoch, als die Frau, nunrnehr Päpstin und Herrin über
die Welt, verlangt, wie Gott zu sein, sagt der Butt, während ein
ungeheurer Sturm über das Meer peitscht, zu dem Fischer: „Geh
nur, sie sitzt schon wieder in der alten Hütte." Und dort, so endet
die Geschichte, säßen der Fischer und seine Frau noch heute. 1
Mit einigem Recht kann man das Märchen vom Fischer und
seiner Frau als ein Gleichnis der assyrischen Geschichte lesen.
Was später einmal „Assyrien" werden sollte, war ursprünglich,
im 3. Jahrtausend v. Chr., nichts weiter als ein kleiner, von ande-
ren Mächten abhängiger Stadtstaat, der aus einer Assur 2 gehei-
ßenen bescheidenen Siedlung auf einer Felsnase über dem Tigris
hervorgegangen war. Im frühen 2. Jahrtausend entwickelte sich
dieses politische Gebilde zunächst zu einem überregionalen
Handelszentrum, wuchs dann seit dem 14. Jahrhundert zu einem
mächtigen Territorialstaat heran, der Gleichrangigkeit mit
Babylonien, dem Hethiterreich und Ägypten beanspruchen
konnte, erfuhr vom 9. Jahrhundert an eine Transformation zum
behenschenden Imperium der gesamten vorderasiatischen Welt
- und wurde schließlich innerhalb weniger Jahre, zwischen 616
und 609 v. Chr., durch die Streitkiäfte einer Koalition von
Babyloniern und Medern fast vollständig von der Landkarte
hinweggefegt. 3 Nur in der Stadt Assur selbst, wo alles seinen
1 Für Anmerkungen zur Geschichte der im Märchen vom Fischer und seiner
Frau ausgesponnenen Motive siehe H. Rölleke, in: K. Ranke (Hrsg.), Enzy-
klopädie des Märchens, Bd. 4, 1232-40.
2 Im folgenden differenziere ich, einer auch sonst geübten Praxis folgend, zwi-
schen "Assur”, der Stadt, und „Assur", dem Gott, obwohl im Assyrischen so-
wohl das eine wie auch das andere - ebenso wie das Land Assyrien - „Assur"
(bzw., mit S. Parpola, PNA 1/1, XXV, „Assür") genannt wurde.
3 Eine modemen Ansprüchen genügende umfassende „Geschichte Assyriens"
von den Anfängen bis zu seinem Untergang bleibt ein Desiderat der For-
schung. A. T. Olmsteads History ofAssyria von 1923 ist veraltet, W. Mayers
1995 erschienenes Werk Politik und Kriegskunst der Assyrer beschäftigt sich
lediglich mit der assyrischen Militärgeschichte, und E. Cancik-Kirschbaums
Die Assyrer: Geschichte, Gesellschaft, Kultur von 2003 beschränkt sich auf
einen äußerst knappen Überblick. Auch die Assyrien gewidmeten Passagen
in Gesamtdarstellungen der Geschichte Mesopotamiens, etwa in A. Kuhrts
The Ancient Near East ca. 3000-330 BC, 81-95, 348-65, 473-546, bleiben
Ausgang genommen hatte, blieben Elemente der assyrischen
Religion und Kultur in bescheidener Form noch mehrere
Jahrhunderte lang lebendig. 4
Natürlich macht sich einer gewissen Vereinfachung schul-
dig, wer Assyriens Geschichte als einen geradlinig verlaufenden
wundersamen Aufstieg darstellt, der schließlich ein abmptes,
wenn auch von einer schattenhaften Coda gefolgtes Ende findet.
Der assyrische Staat erlebte zwischenzeitlich, etwa im zweiten
Viertel des 2. Jahrtausends oder in der Zeit um 1000 v. Chr.,
immer wieder auch Phasen des Niedergangs, die zeitweilig
sogar seine Unabhängigkeit gefährdeten. Aufs Ganze gesehen
jedoch erscheinen Assyriens vermeintlich unaufhaltsame
Expansion und der ihr folgende plötzliche und fast totale
Zusammenbruch den Geschicken des Grimmschen Fischerpaares
tatsächlich sehr ähnlich. Und wenn man die Opfer der assyri-
schen Machterweiterungspolitik betrachtet, die Länder und
Menschen, die nach und nach unter assyrische Oberhenschaft
gerieten, so kann man eine weitere Analogie mit dem Märchen
ausmachen: In Assyriens Drang zu universaler Dominanz mani-
festierte sich für sie jener Hochmut, der, so wie es der Leser des
Märchens im Falle der Fischersfrau empfindet, vor dem wohl-
verdienten und unvermeidlichen Fall kommt.
Unser wichtigstes Zeugnis einer solchen Sichtweise ist die
hebräische Bibel, in der von „Assur" - womit in der Regel
Assyrien und niemals die gleichnamige Stadt gemeint ist - nicht
weniger als 142 Mal die Rede ist. 5 An vielen Stellen kiitisieren
biblische Autoren die in ihren Augen gotteslästerliche Hybris,
mit der die assyrischen Könige ihren Weltherrschaftsanspruch
durchzusetzen suchten. So heißt es etwa in Jesaja 10:12-13:
Ich (Gott) will heimsuchen die Fmcht des Hochmuts des
Königs von Assyrien und den Stolz seiner hoffärtigen
Augen, weil er spricht: „Ich hab’s durch meiner Hände
Kraft ausgerichtet und durch meine Weisheit, denn ich bin
klug. Ich habe die Grenzen der Länder anders gesetzt und
skizzenhaft. Es liegen jedoch zahlreiche detaillierte Studien vor, die sich mit
einzelnen Epochen der assyrischen Geschichte beschäftigen. Auch nur die
wichtigsten hier aufzuzählen, würde zu weit führen, doch seien beispielhaft
zumindest A. K. Graysons Beiträge zur neuassyrischen Zeit in CAH 3/1 2,
238-81 und CAH 3/2 2, 71-161 genannt. Eine relativ rezente Bibliographie
einschlägiger Studien zu dieser besonders reich dokumentierten Epoche bietet
M. Fales, L’impero assiro (2001), 359-96. Der in den letzten dreißig Jahren
zu verzeichnende gewaltige Zuwachs an Textmaterial aus allen Perioden der
assyrischen Geschichte hat unsere Kenntnis derselben erheblich erweitert, zu-
gleich jedoch die Etablierung historischer Synthesen zu einem risikoreichen,
da aufgrund neuerschlossener Quellen beständig revisionsbedürftigen Unter-
nehmen gemacht.
4 Zur Geschichte Assyriens in „postassyrischer” Zeit siehe S. Dalley, AoF 20
(1993), 134-47; zu Assur während der Partherzeit W. Andrae - H. Lenzen,
Die Partherstadt Assur (1933). Die aramäischen Inschriften aus Assur aus
dem 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. - in denen noch immer von Assur und Serua
die Rede ist - wurden 1998 von K. Beyer, Die aramäischen Inschriften aus
Assur, Hatra und dem iibrigen Ostmesopotamien, 11-25 ediert.
5 Für knappe Anmerkungen zum biblischen Assyrien-Bild siehe Verf., CDOG
5 (im Druck).