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Einleitung

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auf Initiative der Royal Asiatic Society vier herausragenden
Gelehrten, W. H. F. Talbot, E. Hincks, H. C. Rawlinson und J.
Oppert, zugänglich gemacht, die in wesentlichen Teilen überein-
stimmende Übersetzungen des Textes vorlegten, womit als
bewiesen gelten durfte, daß die assyrisch-babylonische
Keilschrift im Prinzip entziffert war. 14 Doch die frühen
Grabungen in Assur brachten, anders als die archäologischen
Aktivitäten in Ninnud, Ninive und Khorsabad, keine reliefierten
Wandorthostaten und keine monumentalen Stierkolosse hervor,
an deren Erwerb die großen Museen Europas so angelegentlich
interessiert waren. Die englischen und französischen Forscher
sahen aus diesem Gmnd davon ab, Assur gezielter und mit
einem größeren Aufgebot an Arbeitern zu explorieren.

Erst Anfang des 20. Jahrhunderts, zwischen 1903 und 1914,
fanden in der Ruine unter der Leitung Walter Andraes systema-
tische Grabungen statt. Sie erfolgten im Auftrag der Deutschen
Orient-Gesellschaft und unter dem Patronat Kaiser Wilhelms II.
Diese methodisch richtungsweisenden Untersuchungen, bei
denen erstmalig die Rekonstmktion größerer archäologischer
Zusammenhänge und nicht das Auffinden spektakulärer
Einzelobjekte im Vordergrund stand, 15 waren nicht zuletzt des-
wegen bedeutsam, weil sie endlich auch die früheren Perioden
der assyrischen Geschichte zu erhellen halfen. 16 Von herausra-
gender Bedeutung waren dabei die neu zutage geförderten
Henscherinschriften, die in den Gründungsdepots der verschie-
denen in Assur freigelegten Tempel und Paläste, aber auch an
anderen Orten in der Stadt entdeckt wurden. Sie reichten von
kurzen Weihinschriften aus der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausend,
die erkennen lassen, daß Assur während der altakkadischen und
der Ur Ill-Zeit von den mächtigen Dynastien im babylonischen
Süden abhängig war, über das quantitativ eher bescheidene,
historisch jedoch besonders bedeutsame Korpus altassyrischer
Hen scherinschriften bis hin zu den zu Hunderten zutage beför-
derten Inschriften der mittel- und neuassyrischen Regenten. Die
jüngsten dieser Inschriften stammen von Assyriens letztem
König, Sin-sanu-iskun (622-612 v. Chr.). Auch zahlreiche ande-
re Texte im weiteren Sinne historischen Inhalts, darunter
Chroniken, Königslisten, königliche Dekrete, „historisch-litera-
rische" Werke und vieles mehr, wurden in Assur gefunden. Ihre
Bedeutung für die Rekonstmktion der Geschichte Assyriens,
aber auch für ein besseres Verständnis der assyrischen
Historiographie und ihrer religiös-politischen Grundlagen, ist
kaum zu überschätzen. Erst durch die Entdeckung und allmähli-
che Entzifferung der historischen Texte aus Assur erschloß sich
die longue duree der assyrischen Geschichte in einer mehr als
bloß skizzenhaften Weise.

Zur Publikationslage der historischen Texte aus Assur

Viele der Königsinschriften und anderen „historischen" Texte
aus Assur liegen heute in soliden Bearbeitungen und oftmals
auch in Form von Keilschriftautographien vor. Für die gut erhal-
tenen wichtigen Texte gilt dies fast ohne Ausnahme.

14 Siehe E. A. W. Budge, The Rise and Progress ofAssyriology, 92-94.

15 Siehe J. Bär, in: J. Marzahn - B. Salje (Hrsg.), Wiedererstehendes Assur,
45-52.

16 Überblicke über die Grabung und ihre wichtigsten Ergebnisse bieten W. An-
draes 1938 erschienenes Buch Das Wiedererstandene Assur (zweite erweiter-
te Aufl. 1977) sowie S. M. Maul, in: G. Wilhelm (Hrsg.), Zwischen Nil und
Tigris, 47-65. Für eine umfassende Bibliographie, die auch spätere, im Auf-
trag des irakischen Antikendienstes und der Deutschen Orient-Gesellschaft
durchgeführte Grabungen in Assur berücksichtigt, siehe P. A. Miglus, RIA
11, 146-52.

Der Hauptgmnd für diese gegenüber anderen Textkorpora wie
etwa Omen- und Beschwörungsserien vergleichsweise günstige
Publikationslage ist, daß in den Jahrzehnten, die dem Beginn der
Ausgrabungen in Assur folgten, Fragen der politischen
Geschichte Assyriens fast durchweg im Mittelpunkt des wissen-
schaftlichen Interesses standen. Den in Assur gefundenen histo-
rischen Texten wurde daher besondere Aufmerksamkeit entge-
gengebraucht. Erst in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts
begann sich in den Geisteswissenschaften unter dem Stichwort
des „cultural turn" ein schließlich auch die Assyriologie beein-
flussender Paradigmenwechsel zu etablieren. Kennzeichnend
für ihn war ein wachsendes Unbehagen an einer allzu sehr auf
die „großen Männer" ausgerichteten Geschichtsschreibung und
eine Hinwendung zu Themen wie der Sozial-, Wirtschafts- und
Geschlechtergeschichte, der „Mikrogeschichte“ und der
„Geschichte von unten". 17 Sie ging einher mit einer Aufwertung
von Quellengattungen, die bis dahin weniger Aufmerksamkeit
als die „historischen Texte" gefunden hatten: Urkunden, Briefe,
administrative Notizen sowie im weiteren Sinne religiöse Texte.
Doch trotz dieser Neuorientierung der Forschung, die zahlreiche
neue Perspektiven eröffnet hat, haben sich auch in den letzten
Jahrzehnten eine Reihe von Gelehrten weiter mit der politischen
Geschichte Assyriens und den für diese relevanten Texten, ins-
besondere den Königsinschriften, beschäftigt.

Am Anfang der wissenschaftlichen Erschließung der histo-
rischen Texte aus Assur stehen, sieht man von Einzel-
veröffentlichungen in den Mitteilungen der Deutschen Orient-
Gesellschaft ab, die zwei Bände der Keilschrifttexte aus Assur
historischen Inhalts: L. Messerschmidts KAH 1 von 1911 und
O. Schroeder KAH 2 von 1922. 18 Obwohl z. T. mit Kopien ver-
sehen, die lediglich anhand von Grabungsfotos erstellt worden
waren, 19 setzten diese beiden Publikationen Maßstäbe; bis heute
bilden die in ihnen publizierten Inschriften den Gmndstock des
Korpus der historischen Texte aus Assur. 20 Andere historische
Texte ,unter ihnen Königslisten und königliche Stiftungsurkunden
für Tempel, veröffentlichte Schroeder, erneut in Form von
Keilschriftautographien, 1920 in Keilschrifttexte aus Assur ver-
schiedenen Inhalts (KAV).

Viele der in den beiden KAH-Bänden in Kopie vorgelegten
Königsinschriften wurden in den folgenden Jahren übersetzt und
bearbeitet, u. a. in Werken wie D. D. Luckenbills The Annals of
Sennacherib von 1924 21 den 1926/27 vorgelegten Ancient

17 Für eine Diskussion, wie entsprechende Forschungsinteressen für das Gebiet
der altorientalischen Geschichte ffuchtbar gemacht werden können, siehe M.
van de Mieroop, Cuneiform Texts and the Writing ofHistory.

18 Der folgende Überblick beschränkt sich auf eine Diskussion der wichtigsten
Editionen und Bearbeitungen; bibliographische Vollständigkeit ist nicht
angestrebt.

19 Viele Originaltexte gelangten im Zuge der Fundteilung in das Museum von
Istanbul, und die der Deutschen Orient-Gesellschaft zugesprochenen Texte
erreichten ihren Bestimmungsort, die Berliner Museen, erst im Jahre 1926.
Zu der Odyssee, der die für Berlin bestimmten Kisten mit Funden aus As-
sur aufgrund der Wirren des Ersten Weltkriegs ausgesetzt waren, siehe A.
K. Grayson, ARRIM 1 (1983), 15-18 und R. Wartke, in: B. Salje (Hrsg.),
Vorderasiatische Museen, 77-88. Einige wenige der Anfang des 20. Jahr-
hunderts in Assur ausgegrabenen Texte gelangten weder nach Berlin noch
nach Istanbul, sondem auf irregulären Wegen ins British Museum in London,
den Louvre in Paris, das University Museum in Philadelphia und die Yale
Babylonian Collection. Unter ihnen befand sich der vom Louvre erworbene
und 1912 von F. Thureau-Dangin in TCL 3 veröffentlichte wichtige „Gottes-
brief, in dem Sargon II. dem Götterkönig Assur Bericht über seinen achten
Feldzug erstattet.

20 Keilschriftkopien weiterer Königsinschriften aus Assur bietet die 1918 in
Berlin fertiggestellte Dissertation von L. Kinscherf, Inschriftenbruchstiicke
aus Assur. Sie kursiert in Gestalt von Xerokopien in verschiedenen assyrio-
logischen Instituten, wurde jedoch nie publiziert.

21 Bearbeitungen der Sanherib-Inschriften aus Assur finden sich dort auf pp.
135-52.
 
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