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Einleitung

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Dialektwandel enthobenen und damit auf Ewigkeit abzielenden
sumerischen oder (jung)babylonischen Literatursprache. Selbst
wenn sie sehr kurz sind und lediglich den Namen des Königs
und seine wichtigsten Titel nennen, sind „monumentale" Texte
gmndsätzlich historischer Natur. 28

„Kanonisch" sind Hallo zufolge jene Texte, die für das poli-
tische und religiöse Selbstverständnis der Menschen des Alten
Orients fundierenden Charakter besaßen und im „stream of tra-
dition" der Schreiber 29 - oder auch mündlich - von Generation
zu Generation weitergegeben wurden. In diesem Sinne „kanoni-
sche" Texte 30 sind dann als historisch zu klassifizieren, wenn sie
sich mit nichtmythischen Ereignissen und Gestalten der
Vergangenheit befassen.

Die „archivalischen" Texte schließlich, ob juristischer oder
administrativer Natur, können zwar grundsätzlich der
Aufzeichnung von Vergangenem dienen und tun dies auch
häufig , 31 et wa wenn sie einenregulär erfolgten Gmnd stücks verkauf
und ggf. auch dessen Vorgeschichte dokumentieren. Ihr Zweck
ist jedoch ein rein praktischer, womit sie mit wenigen Ausnahmen
nicht als „historisch" im Sinne von Huizingas Definition mbri-
ziert werden sollten, da es ihnen nicht in einem intellektuellen
Sinne um ein Sich-Rechenschaft-Geben über vergangenes
Geschehen geht. Es hat sich jedoch eingebürgert, politisch rele-
vante archivalische Texte wie etwa Staatsverträge oder
Henscherdekiete - die ohne Frage über längere Zeiträume hin-
weg studiert wurden - ebenfalls als historisch zu klassifizie-
ren. 32

Die auf der Grundlage der vorausgegangenen Überlegungen
in diesem Band versammelten „historischen" Texte lassen sich
verschiedenen Gattungen zuweisen. Zuvörderst sind die unter
Nr. 1-58 behandelten Herrscherinschriften zu nennen, in denen
assyrische Könige ihre Bau- und Kriegstaten kommemorieren,
Weihungen dokumentieren oder ihr Eigentum an bestimmten
Objekten festschreiben. 33 Auch das Fragment eines bislang noch
unbekannten „Gottesbriefes" findet hier Bemcksichtigung (Nr.
29). Ferner enthält der Band Kopien und Bearbeitungen dreier
Fragmente, die zu assyrischen Chroniken zu gehören scheinen
(Nr. 59-61), eines Exzerpts der Gesetze Hammurapis (Nr. 62),

28 Dies gilt m. E. trotz der von J. Renger, in: H.-J. Gehrke - A. Möller (Hrsg.),
Vergangenheit und Lebenswelt, 22, geäußerten Bedenken, wonach die monu-
mentalen Herrscherinschriften ihren Ruf, Geschichtsschreibung zu sein, zu
Unrecht genössen. Nach meinem Dafiirhalten wird der „historische" Charak-
ter dieser Inschriften weder durch die Tatsache, daß sie sich im allgemeinen,
wie von Renger betont, nur mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigen,
noch durch ihre ideologische Tendenzhaftigkeit in Frage gestellt. Auch eine
noch so einseitige Darstellung des gerade Geschehenen bleibt doch Ge-
schichtsschreibung; „Objektivität" und zeitlicher Abstand sind als Kriterien
für das, was als Historiographie gelten darf, untauglich. Auch ganz kurze Kö-
nigsinschrift sind m. E. als historisch einzustufen. Dabei spielt allerdings der
Anbringungsort eine entscheidende Rolle. Eine Ziegelinschrift, die lediglich
den Namen und Titel eines Königs nennt, enthüllt ihre historische Botschaft
- daß der fragliche Herrscher diesen oder jenen Palast oder Tempel errichtet
hat - einzig im Rahmen ihres Baubezugs.

29 Zum Begriff des „Traditionsstroms" siehe A. L. Oppenheim, Ancient Meso-
potamia, 13.

30 Darüber, ob der Begriff „kanonisch" in diesem Zusammenhang glücklich
gewählt ist, kann man natürlich streiten; skeptisch zu der Frage, ob sich der
Kanonizitätsbegriff auf das keilschriftliche Textkorpus anwenden läßt, äu-
ßert sich z. B. F. Rochberg-Halton, JCS 36 (1984), 127-44.

31 Hierzu ausführlich G. J. Selz, in: B. Böck et al. (Hrsg.), Fs. J. Renger, 465-
512, mit Schwerpunkt auf der frühesten Periode mesopotamischer Schrift-
lichkeit.

32 Daher werden in dieser Arbeit auch Fragmente schriftlich fixierter Dekrete,
Loyalitätseide und Vasallenverträge berücksichtigt, bei denen es sich streng
genommen um archivalische Texte handelt.

33 Den bislang differenziertesten, Gattung, Schriftträger, Anbringungsort und
zahlreiche andere Kriterien berücksichtigenden Versuch einer Klassifizie-
rung assyrischer Königsinschriften hat M. Fales, SAAB 13 (1999-2001),
115-37 untemommen.

verschiedener Bruchstücke von Stiftungsurkunden und
Sukzessionsverträgen (Nr. 63-71), zweier privater Weih-
inschriften (Nr. 72-73), die aufgrund ihrer typologischen
Verwandtschaft mit königlichen Dedikationen Berücksichtigung
finden, sowie einiger „historisch-literarischer" bzw. schwer
klassifizierbarer Texte (Nr. 74-80).

Die Auswahl der Texte hatte sich, wie bereits angemerkt,
hauptsächlich auf das Material zu konzentrieren, das mir (im
wesentlichen bis zum Jahr 2002) im Rahmen des Heidelberger
Projekts zur Erschließung der Texte aus Assur zugänglich war.
Damit ergaben sich gewisse Einschränkungen. Bei den in
Heidelberg in Form von Fotos greifbaren Texten handelt es sich
gemäß den vertraglichen Absprachen mit dem Vorderasiatischen
Museum in Berlin im Prinzip durchweg um Tontafeln.
Königsinschriften, die wichtigste und bei weitem umfangreich-
ste Gruppe der historischen Texte aus Assur, wurden jedoch nur
in Ausnahmefällen auf Tontafeln angebracht 34 Weit häufiger
finden sie sich, ihrem vorab diskutierten „monumentalen"
Charakter entsprechend, auf Objekten aus Stein oder Metall,
Ziegeln, Prismen, Zylindern oder Knäufen aus gebranntem Ton
sowie Gegenständen aus anderen Materialien. Inschriften dieser
Art, wie man sie nunmehr in Pedersens KbOA verzeichnet fin-
det, wurden aus den oben genannten Gründen nur in wenigen
Ausnahmefällen, etwa wenn ein Prismenfragment so klein war,
daß es bei der vorläufigen Katalogisierung als Tontafelbmchstück
gebucht worden war, im Rahmen des Heidelberger Projekts
fotografiert und waren mir daher lediglich wähiend meiner zeit-
lich begrenzten Aufenthalte im Berliner Museum zugänglich.
Einige Prismen- und Zylinderinschriften habe ich in Berlin
kopieren können, doch eine wirklich umfassende Aufnahme der
entsprechenden Texte war mir nicht möglich; sie bleibt ein
Desiderat.

Duplikate schon bekannter Inschiiften habe ich zumeist
unberücksichtigt gelassen, 35 es sei denn, sie waren bislang un-
identifiziert. Neue Steininschriften werden hier ebenfalls nicht
publiziert; ihre Erschließung hatte sich J. Orlamünde (die vor
einigen Monaten plötzlich und völlig unerwartet verstorben ist)
im Rahmen des Berliner Assur-Projekts zur Aufgabe gemacht 36
Des weiteren ist zu beachten, daß lediglich die Texte aus den
deutschen Grabungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts, und
auch nur, soweit sie nach Berlin gelangten, Gegenstand der vor-
liegenden Arbeit sind; das in Istanbul aufbewahrte
Inschriftenmaterial 37 sowie die Texte, die sich bei den späteren
irakischen und deutschen Grabungen fanden, mußten im allge-
meinen unberücksichtigt bleiben 38 Nicht in diesen Band aufge-

34 Einige dieser Tontafelinschriften, z. B. RIMA 3, 102.6, Ex. 1 aus der Zeit
Salmanassars III., fungierten offenbar als Gründungsurkunden (siehe R. El-
lis, Foundation Deposits in Ancient Mesopotamia, 94-107). Bei anderen han-
delt es sich dagegen um - z. T. in Bibliotheken archivierte - Vorlagen oder
Abschriften solcher Urkunden. Weitere Anmerkungen zum archäologischen
Kontext der Inschriften finden sich in den nachfolgenden Unterkapiteln.

35 Natürlich sollte auch dieses Material möglichst bald erschlossen und - in
welcher Form auch immer - publiziert werden, nicht zuletzt, weil sich dabei
noch so mancher Join ausfindig machen lassen sollte. Dies gilt etwa für die
zahlreichen Bruchstücke von Tonprismen Tiglatpilesers I., die Pedersen in
KbOA, 152-59, 340-43 zusammengestellt hat.

36 Für einige einführende Bemerkungen zu diesem Projekt siehe J. Orlamünde,
in: J.Marzahn-B. Salje (Hrsg.), Wiedererstehendes Assur, 139-147.Ein von
Frau Orlamünde nachgelassenes Manuskript über die in Assur gefundenen
Bruchstücke beschrifteter Obelisken wird gegenwärtig von J. Renger zum
Dmck vorbereitet.

37 Ausnahmen stellen einige wenige anhand von Grabungsfotos kopierte Texte
aus Istanbul dar, die mit Berliner Fragmenten joinen.

38 Eine bei den irakischen Grabungen zutage gekommene fragmentarische
Tonknauf(?)inschrift, die ich dank der Freundlichkeit des seinerzeitigen Gra-
bungsleiters, des im Januar 2004 tragisch verstorbenen Riad al-Duri, während
 
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