8
Historische und historisch-literarische Keilschrifttexte aus Assur
sowie des hier unter Nr. 76/76a edierten Textes über Isme-
Dagän, den Gott Assur und den Gott Enlil von Nippur.
Historische Informationen finden sich akzidentiell auch in
einigen anderen Texten aus N4, z. B. zwei Exemplaren des
berühmten „Leitfadens der Beschwörungskunst", der die edito-
rischen Aktivitäten des unter Adad-apla-iddina (1068-1047 v.
Chr.) von Babylon tätigen gelehrten Exorzisten Esagil-kln-apli
erwähnt, 64 oder in einem Kolophon, der einen Text medizini-
schen Inhalts als Kopie einer Tafel aus dem Palast Hammurapis
von Babylon ausweist. 65
Wie bereits von Pedersen und Maul ausgeführt, 66 läßt sich
aus dem so umrissenen Korpus, besonders den historisch-litera-
rischen Texten, recht eindeutig ersehen, daß die Bewohner des
„Hauses des Beschwörungspriesters" vor allem an einem inter-
essiert waren: Sie wollten herauszufinden, was eine gottgefällige
Herrschaft ausmache und wie diese insbesondere in Babylon
idealerweise zu realisieren sei. In Texten wie der „Weidner-
Chronik" und der Sulgi-Prophetie ist die entscheidende Frage,
welche berühmten mesopotamischen Henscher den Marduk-
Kult im Esagil zu Babylon angemessen durchgeführt hatten und
welche nicht, während die Marduk-Prophetie die verschiedenen
Erobemngen Babylons durch Fremdhenscher als Willensakte
Marduks deutet und eine neue, möglicherweise mit Nebukad-
nezar I. verbundene Segenszeit ankündigt. Auch das Verhältnis
zwischen Babylonien und Assyrien kommt zumindest in den
beiden letztgenannten Texten - wie auch in der Synchronistischen
Königsliste und dem hier publizierten Isme-Dagän-Text - wie-
derholt zur Sprache.
Es liegt nahe zu vermuten, daß die Baba-sumu-ibnis die
genannten Texte mit Blick auf zwei der wichtigsten politischen
und religiösen Herausforderungen ihrer Zeit studiert haben. Zum
einen mußten die assyrischen Könige, die seit der Regiemngszeit
Tiglatpilesers III. mit nur wenigen Unterbrechungen Babylon
und Babylonien regierten, Strategien entwickeln, um ihrer
Herrschaft über dieses alte, auch für Assyrien immens wichtige
Kulturland in den Augen der Babylonier ideologische Legitimität
zu verleihen. Ein Blick auf historische Präzedenzfälle, wie sie
die genannten Texte boten, dürfte sich bei der Auseinandersetzung
mit diesem Problem als hilfreich erwiesen haben. Ferner haben
einige spätassyrische Könige insbesondere auf dem Gebiet des
Kultes bestimmte babylonische Bräuche nach Assyrien übertra-
gen. Dies gilt z. B. für die in Assur begangenen Fmhlings-
feierlichkeiten, die von Sanherib unter Rückgriff auf Elemente
des Akltu-Festes von Babylon reorganisiert wurden. 67 Die
Mitglieder der Baba-sumu-ibni-Familie waren, wie zahlreichen
aus N4 stammenden Beschreibungen von Tempelritualen zu
entnehmen ist, 68 an der Gestaltung der Kultfestlichkeiten in
Assur offenbar maßgeblich beteiligt und dürften daher Texten,
in denen babylonische Kultpraktiken geschildert und in einen
historischen Zusammenhang gestellt werden, einiges Interesse
entgegengebracht haben. 69
64 KAR 44; M. Geller, in: A. R. George -1. L. Finkel (Hrsg.), Fs. W. G. Lam-
bert, 242-54; ALA 2, N4, nos. 132, 310.
65 BAM 322; ALA 2, N4, no. 173. Bei den irakischen Ausgrabungen in N4 fand
sich außerdem ein Auszug aus dem Codex Hammurapi; siehe ALA 2, p. 58,
n. 35. Ein weiteres entsprechendes Exzerpt, das freilich aus einem anderen
Fundkontext stammen dürfte, wird im vorliegenden Band unter Nr. 62 ver-
öffentlicht.
66 ALA 2, p. 56; Wiedererstehendes Assur, 180.
67 Verf., Einleitung in die Sanherib-Inschriften, 282-88.
68 Für eine vorläufige Liste entsprechender Tafeln siehe ALA 2, p. 57; S. M.
Maul hat inzwischen weitere einschlägige Fragmente identifiziert.
69 Die oben genannten, gleichfalls aus N4 stammenden Kopien älterer, von
Unklar bleibt bei alledem, ob die Baba-sumu-ibnis auf Babylon
mit Sympathie, Neid oder womöglich sogar massiver Ablehnung
geblickt haben. Neben den genannten, grundsätzlich probabylo-
nischen Texten fand sich in ihrer Bibliothek auch ein Manuskiipt
des eindeutig Babylon-kritischen sog. „Marduk-Ordals", einer
polemischen „Relektüre" der Akltu-Feierlichkeiten in Babylon. 70
Die zentrale Botschaft dieses Textes lautet, daß die beim Akltu-
Fest vollzogenen Kultakte Marduk nicht etwa verherrlichten,
sondern in Wahrheit die Gefangennahme und Folter des Gottes
abbildeten. Vielleicht haben die verschiedenen Mitglieder der
Beschwörungspriesterfamilie mit Blick auf Babylon von den
jeweiligen Zeitumständen abhängige unterschiedliche Mei-
nungen vertreten.
Auch ein nicht unerhebliches Interesse an der Gestalt
Sargons von Akkad und seines assyrischen Namensvetters
Sargons II. läßt sich aus den Texten aus N4 ersehen. Hier sind
namentlich, mit Blick auf den erstgenannten, die „Weidner-
Chronik" und die „Sargon-Geographie" und, den letztgenannten
betreffend, der „Gottesbrief" sowie eines der Suilla-Gebete zu
nennen. In welchem Ausmaß dabei historische Verbindungen
zwischen den beiden Königen hergestellt wurden, ist schwer zu
beurteilen. 71
* * *
Zahlreiche historische Texte ganz anderer Art, als sie in N4
gefunden wurden, kamen gleich zu Beginn der deutschen
Ausgrabungen in Assur in einem kleinen, von den Ausgräbern
provisorisch als „Tempel A" bezeichneten Sanktuar im südli-
chen Bereich des Vorhofs des Assur-Tempels zutage. Da die
Bauberichte dieser Texte auf unterschiedliche Gebäude Bezug
nehmen, steht fest, daß man hier nicht auf ein Gründungsdepot
gestoßen war, sondern auf eine offenbar bewußt angelegte
Sammlung von Texten, die über die Geschichte Assurs und sei-
ner Könige Auskunft geben konnten. Im einzelnen fanden sich
in dem besagten Areal P. Miglus zufolge 82 z. T. fragmentari-
sche beschriftete Steintafeln, 24 Prismen- und Zylinderfragmente,
alle mit Inschriften unterschiedlicher assyrischer Könige verse-
hen, vier Tontafeln mit Inschriften Tiglatpilesers I. und Adad-
närärls II. und sechs Tafeln mit Dekieten Adad-närärls III. 72 Zu
den im Bereich des Tempels A zutage gekommenen Texten
gehören auch die im vorliegenden Band unter Nr. 7 (Tiglatpileser
I.), 16 (Adad-närärl II.) und 47 (fmhneuassyrisch) veröffentlich-
ten Tontafelinschriften sowie das unter Nr. 40 publizierte
Sanherib-Prisma. Die Inschriften wurden in verschiedenen
Schichten gefunden. Diejenigen, die im parthischen und im spä-
teren der beiden „nachassyrischen" Tempel zutage kamen,
waren in den fraglichen Gebäuden verbaut, 73 die Inschriften aus
Tukultl-Ninurta I und einem Salmanassar stammender Dekrete zum Tem-
pelkult sind wohl ebenfalls im Zusammenhang mit der Rolle zu sehen, die
die Baba-sumu-ibnis bei der Reorganisation der Kultfeierlichkeiten in Assur
spielten.
70 KAR 219; SAA 3, no. 34; ALA 2, N4, no. 453.
71 Für die Annahme, daß der Sargon der „Weidner-Chronik" und der „Sargon-
Geographie" im 8./7. Jahrhundert als Präfigurationen Sargons II. aufgefaßt
wurden, siehe M. van de Mieroop, in: B. Böck et al. (Hrsg.), Fs. J. Renger,
327-39.
72 Für Details siehe P. Miglus, in: B. Hrouda (Hrsg.), Fs. E. Strommenger, 136-
39 und O. Pedersen, ALA 2, p. 13, n. 9. Eine vollständige Präsentation des
entsprechenden Textmaterials ist hier aus Platzgründen nicht möglich.
73 Wie von Miglus, Fs. Strommenger, 137 vermerkt, waren sechs vollständig
erhaltene Steintafeln sichtbar im Fußboden der parthischen Vorcella verlegt.
Die Bewohner des parthischen Assur konnten sie vermutlich nicht mehr le-
sen, doch dürften sie sich, wenn sie den Tempel besuchten, darüber im kla-
ren gewesen sein, daß sie hier auf den schriftlichen Hinterlassenschaften der
Historische und historisch-literarische Keilschrifttexte aus Assur
sowie des hier unter Nr. 76/76a edierten Textes über Isme-
Dagän, den Gott Assur und den Gott Enlil von Nippur.
Historische Informationen finden sich akzidentiell auch in
einigen anderen Texten aus N4, z. B. zwei Exemplaren des
berühmten „Leitfadens der Beschwörungskunst", der die edito-
rischen Aktivitäten des unter Adad-apla-iddina (1068-1047 v.
Chr.) von Babylon tätigen gelehrten Exorzisten Esagil-kln-apli
erwähnt, 64 oder in einem Kolophon, der einen Text medizini-
schen Inhalts als Kopie einer Tafel aus dem Palast Hammurapis
von Babylon ausweist. 65
Wie bereits von Pedersen und Maul ausgeführt, 66 läßt sich
aus dem so umrissenen Korpus, besonders den historisch-litera-
rischen Texten, recht eindeutig ersehen, daß die Bewohner des
„Hauses des Beschwörungspriesters" vor allem an einem inter-
essiert waren: Sie wollten herauszufinden, was eine gottgefällige
Herrschaft ausmache und wie diese insbesondere in Babylon
idealerweise zu realisieren sei. In Texten wie der „Weidner-
Chronik" und der Sulgi-Prophetie ist die entscheidende Frage,
welche berühmten mesopotamischen Henscher den Marduk-
Kult im Esagil zu Babylon angemessen durchgeführt hatten und
welche nicht, während die Marduk-Prophetie die verschiedenen
Erobemngen Babylons durch Fremdhenscher als Willensakte
Marduks deutet und eine neue, möglicherweise mit Nebukad-
nezar I. verbundene Segenszeit ankündigt. Auch das Verhältnis
zwischen Babylonien und Assyrien kommt zumindest in den
beiden letztgenannten Texten - wie auch in der Synchronistischen
Königsliste und dem hier publizierten Isme-Dagän-Text - wie-
derholt zur Sprache.
Es liegt nahe zu vermuten, daß die Baba-sumu-ibnis die
genannten Texte mit Blick auf zwei der wichtigsten politischen
und religiösen Herausforderungen ihrer Zeit studiert haben. Zum
einen mußten die assyrischen Könige, die seit der Regiemngszeit
Tiglatpilesers III. mit nur wenigen Unterbrechungen Babylon
und Babylonien regierten, Strategien entwickeln, um ihrer
Herrschaft über dieses alte, auch für Assyrien immens wichtige
Kulturland in den Augen der Babylonier ideologische Legitimität
zu verleihen. Ein Blick auf historische Präzedenzfälle, wie sie
die genannten Texte boten, dürfte sich bei der Auseinandersetzung
mit diesem Problem als hilfreich erwiesen haben. Ferner haben
einige spätassyrische Könige insbesondere auf dem Gebiet des
Kultes bestimmte babylonische Bräuche nach Assyrien übertra-
gen. Dies gilt z. B. für die in Assur begangenen Fmhlings-
feierlichkeiten, die von Sanherib unter Rückgriff auf Elemente
des Akltu-Festes von Babylon reorganisiert wurden. 67 Die
Mitglieder der Baba-sumu-ibni-Familie waren, wie zahlreichen
aus N4 stammenden Beschreibungen von Tempelritualen zu
entnehmen ist, 68 an der Gestaltung der Kultfestlichkeiten in
Assur offenbar maßgeblich beteiligt und dürften daher Texten,
in denen babylonische Kultpraktiken geschildert und in einen
historischen Zusammenhang gestellt werden, einiges Interesse
entgegengebracht haben. 69
64 KAR 44; M. Geller, in: A. R. George -1. L. Finkel (Hrsg.), Fs. W. G. Lam-
bert, 242-54; ALA 2, N4, nos. 132, 310.
65 BAM 322; ALA 2, N4, no. 173. Bei den irakischen Ausgrabungen in N4 fand
sich außerdem ein Auszug aus dem Codex Hammurapi; siehe ALA 2, p. 58,
n. 35. Ein weiteres entsprechendes Exzerpt, das freilich aus einem anderen
Fundkontext stammen dürfte, wird im vorliegenden Band unter Nr. 62 ver-
öffentlicht.
66 ALA 2, p. 56; Wiedererstehendes Assur, 180.
67 Verf., Einleitung in die Sanherib-Inschriften, 282-88.
68 Für eine vorläufige Liste entsprechender Tafeln siehe ALA 2, p. 57; S. M.
Maul hat inzwischen weitere einschlägige Fragmente identifiziert.
69 Die oben genannten, gleichfalls aus N4 stammenden Kopien älterer, von
Unklar bleibt bei alledem, ob die Baba-sumu-ibnis auf Babylon
mit Sympathie, Neid oder womöglich sogar massiver Ablehnung
geblickt haben. Neben den genannten, grundsätzlich probabylo-
nischen Texten fand sich in ihrer Bibliothek auch ein Manuskiipt
des eindeutig Babylon-kritischen sog. „Marduk-Ordals", einer
polemischen „Relektüre" der Akltu-Feierlichkeiten in Babylon. 70
Die zentrale Botschaft dieses Textes lautet, daß die beim Akltu-
Fest vollzogenen Kultakte Marduk nicht etwa verherrlichten,
sondern in Wahrheit die Gefangennahme und Folter des Gottes
abbildeten. Vielleicht haben die verschiedenen Mitglieder der
Beschwörungspriesterfamilie mit Blick auf Babylon von den
jeweiligen Zeitumständen abhängige unterschiedliche Mei-
nungen vertreten.
Auch ein nicht unerhebliches Interesse an der Gestalt
Sargons von Akkad und seines assyrischen Namensvetters
Sargons II. läßt sich aus den Texten aus N4 ersehen. Hier sind
namentlich, mit Blick auf den erstgenannten, die „Weidner-
Chronik" und die „Sargon-Geographie" und, den letztgenannten
betreffend, der „Gottesbrief" sowie eines der Suilla-Gebete zu
nennen. In welchem Ausmaß dabei historische Verbindungen
zwischen den beiden Königen hergestellt wurden, ist schwer zu
beurteilen. 71
* * *
Zahlreiche historische Texte ganz anderer Art, als sie in N4
gefunden wurden, kamen gleich zu Beginn der deutschen
Ausgrabungen in Assur in einem kleinen, von den Ausgräbern
provisorisch als „Tempel A" bezeichneten Sanktuar im südli-
chen Bereich des Vorhofs des Assur-Tempels zutage. Da die
Bauberichte dieser Texte auf unterschiedliche Gebäude Bezug
nehmen, steht fest, daß man hier nicht auf ein Gründungsdepot
gestoßen war, sondern auf eine offenbar bewußt angelegte
Sammlung von Texten, die über die Geschichte Assurs und sei-
ner Könige Auskunft geben konnten. Im einzelnen fanden sich
in dem besagten Areal P. Miglus zufolge 82 z. T. fragmentari-
sche beschriftete Steintafeln, 24 Prismen- und Zylinderfragmente,
alle mit Inschriften unterschiedlicher assyrischer Könige verse-
hen, vier Tontafeln mit Inschriften Tiglatpilesers I. und Adad-
närärls II. und sechs Tafeln mit Dekieten Adad-närärls III. 72 Zu
den im Bereich des Tempels A zutage gekommenen Texten
gehören auch die im vorliegenden Band unter Nr. 7 (Tiglatpileser
I.), 16 (Adad-närärl II.) und 47 (fmhneuassyrisch) veröffentlich-
ten Tontafelinschriften sowie das unter Nr. 40 publizierte
Sanherib-Prisma. Die Inschriften wurden in verschiedenen
Schichten gefunden. Diejenigen, die im parthischen und im spä-
teren der beiden „nachassyrischen" Tempel zutage kamen,
waren in den fraglichen Gebäuden verbaut, 73 die Inschriften aus
Tukultl-Ninurta I und einem Salmanassar stammender Dekrete zum Tem-
pelkult sind wohl ebenfalls im Zusammenhang mit der Rolle zu sehen, die
die Baba-sumu-ibnis bei der Reorganisation der Kultfeierlichkeiten in Assur
spielten.
70 KAR 219; SAA 3, no. 34; ALA 2, N4, no. 453.
71 Für die Annahme, daß der Sargon der „Weidner-Chronik" und der „Sargon-
Geographie" im 8./7. Jahrhundert als Präfigurationen Sargons II. aufgefaßt
wurden, siehe M. van de Mieroop, in: B. Böck et al. (Hrsg.), Fs. J. Renger,
327-39.
72 Für Details siehe P. Miglus, in: B. Hrouda (Hrsg.), Fs. E. Strommenger, 136-
39 und O. Pedersen, ALA 2, p. 13, n. 9. Eine vollständige Präsentation des
entsprechenden Textmaterials ist hier aus Platzgründen nicht möglich.
73 Wie von Miglus, Fs. Strommenger, 137 vermerkt, waren sechs vollständig
erhaltene Steintafeln sichtbar im Fußboden der parthischen Vorcella verlegt.
Die Bewohner des parthischen Assur konnten sie vermutlich nicht mehr le-
sen, doch dürften sie sich, wenn sie den Tempel besuchten, darüber im kla-
ren gewesen sein, daß sie hier auf den schriftlichen Hinterlassenschaften der