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Weiershäuser, Frauke; Hrůša, Ivan; Maul, Stefan M. [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts (Band 8, Teil 1): Ur5-ra: Einleitung, Katalog, Textbearbeitungen, Verzeichnisse — Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.57033#0010
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Vorwort des Herausgebers

Listen von Schriftzeichen und thematisch geordnete Zusammen-
stellungen von Graphien für Wörter und Wendungen sind uns
aus allen Epochen der mesopotamischen Schriftgeschichte be-
kannt. Mit Fug und Recht dürfen sie als älteste Gattung der keil-
schriftlichen Textüberlieferung bezeichnet werden. Ohne sie ist
der unvergleichliche Siegeszug der Schrift, der im letzten Drittel
des vierten vorchristlichen Jahrtausends wohl von Uruk seinen
Ausgang nahm, nicht denkbar. Denn die Erfindung eines Notati-
onssystems. das die Dokumentation von komplexen Buchungs-
vorgängen ermöglicht, wäre bedeutungslos geblieben, hätte man
nicht gemeinsam mit dessen Einführung auch ein Regelwerk
geschaffen, das die Verwendung von Schriftträgem und Schreib-
techniken festlegte und dabei Wesen und Umfang des Zeichen-
bestandes und Schreibkonventionen aller Art bis in kleinste Ein-
zelheiten bestimmte. Nur dank der Durchsetzung entsprechender
Normen und ihrer dauerhaften Etablierung konnte es gelingen,
die Keilschrift zu einem nachhaltigen und überregional verständ-
lichen Kommunikationsmittel auszugestalten. In Tontafeln mit
didaktisch aufbereiteten Zeichen- und Wortlisten gewinnen diese
Normen Gestalt.
Bereits unter den frühesten Schriftzeugnissen finden sich
nicht allein Dokumente der Wirtschaftsverwaltung. Etwa 20 %
der sog. Archaischen Texte aus Uruk sind Abschriften standardi-
sierter Listen. Darin sind - thematisch wohlgeordnet - die Gra-
phien für Personen und Berufe, für Gefäße und Textilien, für Me-
talle und Hölzer sowie die daraus gefertigten Gegenstände, für
Haustiere. Vögel. Fische und Pflanzen, für Städte. Nahrungsmit-
tel und anderes mehr zusammengestellt. Aus der ältesten Epoche
der Schriftgeschichte kennen wir dreizehn verschiedene, immer
wieder abgeschriebene Kompendien dieser Art. Im Rahmen ei-
nes Schulbetriebs sollten sie Schreiberschüler und angehende
Verwaltungsfunktionäre mit allen für ihre Tätigkeit notwendigen
Begriffen und mit den diesen Begriffen zugeordneten Schriftzei-
chen vertraut machen.
Zwar wandelten sich Inhalte und Präsentationsformen der
sog. Lexikalischen Listen im Lauf der Jahrtausende, aber in dem
langen Zeitraum von der Schrifterfindung bis zum Untergang der
mesopotamischen Keilschriftkultur an der Wende vom ersten
zum zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung verloren sie nie
ihre grundlegende Bedeutung für die Ausbildung von Schreibern
und Schriftgelehrten. Kein anderes keilschriftliches Textgenre
war so eng mit dem Schrift- und Sprachenerwerb verwoben.
Wir kennen nicht nur die von Schriftgelehrten. Lehrern und
fortgeschrittenen Schülern akkurat geschriebenen Tontafeln mit
vollständigen Zeichen- und Wortlisten, die man als Vorlagen für
Ausbildung und Studium benötigte. Aus nahezu allen Epochen
keilschriftlicher Überlieferung haben sich auch mehr oder minder
ungelenke Schreibübungen erhalten, mit denen Schüler anhand

ausgewählter Passagen aus dem Korpus lexikalischer Texte die
Handhabung von Tontafel und Griffel erlernten und dabei auch
die für den Schreibvorgang notwendige motorische Geschick-
lichkeit erwarben. In folgenden Ausbildungsstufen hatten sie im-
mer wieder andere Abschnitte lexikalischer Listen von Vorlagen
zu kopieren, zu memorieren und auswendig niederzuschreiben.
Aus allen Epochen der Keilschriftgeschichte sind solche Übun-
gen angehender Schreiber und Gelehrter auf uns gekommen. Der
Alte Orient hat so - anders als alle anderen Schriftkulturen des
Altertums - eine fast unüberschaubare Zahl von Zeugnissen hin-
terlassen. die den komplexen Prozeß des Schriftspracherwerbs1
in allen Einzelheiten dokumentieren.
Noch fehlt es weitgehend an Untersuchungen, die aufzeigen,
wie sehr die lexikalischen Texte, anhand derer man im Jugendal-
ter die Keilschrift und die sumerischen und akkadischen Schrift-
sprachen erlernte, die graphischen Konventionen, die Schreibge-
wohnheiten und das literarische Schaffen sumerischer, babyloni-
scher und assyrischer Schriftgelehrter inspiriert haben. Entspre-
chende Forschungsfelder werden sich wohl erst dann umfänglich
entfalten können, wenn die lexikalischen Überlieferungen des
Alten Orients allesamt bekannt und leicht zugänglich sind. Den-
noch ist schon jetzt zu erkennen, daß die nach dem Aussterben
des gesprochenen Sumerischen künstlich am Leben gehaltene su-
merische Kult- und Gelehrtensprache im Lauf der Zeit mehr und
mehr von den in Schulkontexten überlieferten zweisprachigen
sumerisch-akkadischen Wortlisten geprägt wurde. Und ebenso ist
es offensichtlich, daß die profunde Kenntnis der gesamten zwei-
sprachigen sumerisch-akkadischen lexikalischen Überlieferung
die unverzichtbare Grundlage der gelehrten altorientalischen Ver-
fahren von Textauslegung und Kommentierung bildete.
Ohne Zweifel hat stetes Abschreiben und Auswendiglernen.
Auswendiglernen und Abschreiben der Zeichen- und Wortlisten
die intellektuelle Entwicklung der jungen Schreiberschüler in
gehörigem Maß beeinflußt. Die ihnen seit Kindertagen vertraute
Auswahl der dort zusammengestellten Termini und deren fest-
stehende Reihenfolge dürfte ihre Weltwahmehmung nachhaltig
geformt und ihnen gewissermaßen die .Bausteine1 und Ord-
nungsparameter ihres Denkens geliefert haben. Unter diesem
Gesichtspunkt sind Einfluß und Bedeutsamkeit der lexikalischen
Überlieferung des Alten Orients noch weitgehend unerforscht.
Die Übernahme der mesopotamischen Keilschrift in Syrien
und Palästina, in Anatolien und im Iran ging stets einher mit der
Verbreitung der in Mesopotamien im Elementarunterricht einge-
setzten Lehr- und Lernmittel. So wurden schon im 24. vorchrist-

1 Zu diesem Begriff siehe A. Schründer-Lenzen. Schriftspracherwerb.
4.. völlig überarbeitete Auflage. Wiesbaden 2013 und dies.. Schrift-
spracherwerb und Unterricht: Bausteine professionellen Handlungs-
wissens. 3. Auflage. Wiesbaden2009.
 
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