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Einleitung der Herausgeberin
An seiner Dissertation arbeitete Jaspers teils vor dem Examen, teils während des Me-
dizinalpraktikums an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg.23 Offiziel-
ler Doktorvater war zwar der damalige Klinikdirektor und Lehrstuhlinhaber Franz Nissl,
betreut wurde die Arbeit aber von Karl Wilmanns, Privatdozent für Psychiatrie.24 Nach
der Promotion absolvierte Jaspers eine halbjährige Ausbildung an der Neurologischen
Abteilung der Inneren Klinik. Daraufhin bot ihm Nissl eine Stelle als Volontärassistent
an. Diese unbezahlte Stellung hatte Jaspers bis 1915 inne, als er, nach einer präzedenz-
losen Habilitation im Fach Psychologie, die Vorlesungen über Psychologie übernahm.25
Aufgrund einer chronischen Bronchialerkrankung konnte sich Jaspers nur begrenzt am
regulären Klinikalltag beteiligen und war deshalb vornehmlich wissenschaftlich tätig.26
Auf dieser Einschränkung gründet auch sein Ruf des »stillen Beobachters« bei den tat-
kräftigeren Kollegen.27 Diesen wies er jedoch mit dem Argument zurück, dass auch er
»viele konkrete Untersuchungen machte und nicht bloss nachdachte.«28 Die Beobach-
tung der anderen Ärzte hatte für ihn eine »ebenso grosse Rolle wie die [s]eines eigenen
Tuns« gespielt.29 Besonderen Wert legte Jaspers dabei auf seine Vertretung August Hom-
burgers30 als Leiter der Poliklinik - die ihm Zugang zu interessanten Fällen verschaffte,
die er auch in seine Publikationen aufnahm - sowie auf die von ihm selbst durchgeführ-
ten Intelligenztests und Blutdruckmessungen.
Ursprünglich - genauer seit Dezember 1906 - hätte Jaspers’ Dissertationsthema das
»Verhalten des Blutdrucks bei Geisteskranken« sein sollen. Doch erwiesen sich die ent-
sprechenden Experimente als so unergiebig und Wilmanns’ Sachverständigkeit als so
bescheiden, dass Jaspers im März 1907 den Forschungsgegenstand wechselte.31 Mit ei-
23 Jaspers studierte ab 1906 in Heidelberg, bestand das Examen am 20. Januar 1908 und verteidigte
am 8. Dezember seine Dissertation.
24 Zu Franz Nissl siehe Stellenkommentar, Nr. 10. Sein Gutachten zur Dissertation ist im Stellenkom-
mentar, Nr. 2 größtenteils wiedergegeben. - Zu Karl Wilmanns siehe Stellenkommentar, Nr. 7.
25 Zu den Hintergründen und zur disziplinhistorischen Bedeutung des gesamten Habilitationsver-
fahrens siehe H. Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Das Fach Philosophie und die
Wissenschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich, Heidelberg 2017.
26 Zur eigenen Krankheit (Bronchiektasien und sekundäre Herzinsuffizienz) äußerte sich Jaspers
wiederholt und sehr eingehend. Vgl. z.B. K. Jaspers: »Krankheitsgeschichte«.
27 Vgl. H. W. Gruhle: »Psychopathologie und akademischer Unterricht«, in: K. Piper (Hg.): Offener
Horizont. Festschrift für Karl Jaspers, München 1953,155-160.
28 Vgl. K. Jaspers an H. Gruhle, 23. März 1953, in: Jaspers: Korrespondenzen 1,171.
29 Ebd.
30 Der Psychiater August Homburger (1873-1930) kam 1907 nach Heidelberg, wo er 1920 die Leitung
der Poliklinik übernahm. Im Jahre 1911 habilitierte er sich, 1917 wurde er zum außerordentlichen
Professor ernannt.
31 Jaspers hatte sich dafür auch einen von dem Blutdruckforscher Heinrich Jacob von Recklinghau-
sen (1867-1942) entwickelten Apparat beschaffen müssen, da die Heidelberger Klinik einen sol-
chen nicht besaß. Im Briefwechsel mit der Familie äußert Jaspers den Verdacht, dass das Blut-
druck-Thema von Albert Fraenkel (1864-1938) Jaspers’ Betreuer Wilmanns suggeriert worden sei.
Einleitung der Herausgeberin
An seiner Dissertation arbeitete Jaspers teils vor dem Examen, teils während des Me-
dizinalpraktikums an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg.23 Offiziel-
ler Doktorvater war zwar der damalige Klinikdirektor und Lehrstuhlinhaber Franz Nissl,
betreut wurde die Arbeit aber von Karl Wilmanns, Privatdozent für Psychiatrie.24 Nach
der Promotion absolvierte Jaspers eine halbjährige Ausbildung an der Neurologischen
Abteilung der Inneren Klinik. Daraufhin bot ihm Nissl eine Stelle als Volontärassistent
an. Diese unbezahlte Stellung hatte Jaspers bis 1915 inne, als er, nach einer präzedenz-
losen Habilitation im Fach Psychologie, die Vorlesungen über Psychologie übernahm.25
Aufgrund einer chronischen Bronchialerkrankung konnte sich Jaspers nur begrenzt am
regulären Klinikalltag beteiligen und war deshalb vornehmlich wissenschaftlich tätig.26
Auf dieser Einschränkung gründet auch sein Ruf des »stillen Beobachters« bei den tat-
kräftigeren Kollegen.27 Diesen wies er jedoch mit dem Argument zurück, dass auch er
»viele konkrete Untersuchungen machte und nicht bloss nachdachte.«28 Die Beobach-
tung der anderen Ärzte hatte für ihn eine »ebenso grosse Rolle wie die [s]eines eigenen
Tuns« gespielt.29 Besonderen Wert legte Jaspers dabei auf seine Vertretung August Hom-
burgers30 als Leiter der Poliklinik - die ihm Zugang zu interessanten Fällen verschaffte,
die er auch in seine Publikationen aufnahm - sowie auf die von ihm selbst durchgeführ-
ten Intelligenztests und Blutdruckmessungen.
Ursprünglich - genauer seit Dezember 1906 - hätte Jaspers’ Dissertationsthema das
»Verhalten des Blutdrucks bei Geisteskranken« sein sollen. Doch erwiesen sich die ent-
sprechenden Experimente als so unergiebig und Wilmanns’ Sachverständigkeit als so
bescheiden, dass Jaspers im März 1907 den Forschungsgegenstand wechselte.31 Mit ei-
23 Jaspers studierte ab 1906 in Heidelberg, bestand das Examen am 20. Januar 1908 und verteidigte
am 8. Dezember seine Dissertation.
24 Zu Franz Nissl siehe Stellenkommentar, Nr. 10. Sein Gutachten zur Dissertation ist im Stellenkom-
mentar, Nr. 2 größtenteils wiedergegeben. - Zu Karl Wilmanns siehe Stellenkommentar, Nr. 7.
25 Zu den Hintergründen und zur disziplinhistorischen Bedeutung des gesamten Habilitationsver-
fahrens siehe H. Gundlach: Wilhelm Windelband und die Psychologie. Das Fach Philosophie und die
Wissenschaft Psychologie im Deutschen Kaiserreich, Heidelberg 2017.
26 Zur eigenen Krankheit (Bronchiektasien und sekundäre Herzinsuffizienz) äußerte sich Jaspers
wiederholt und sehr eingehend. Vgl. z.B. K. Jaspers: »Krankheitsgeschichte«.
27 Vgl. H. W. Gruhle: »Psychopathologie und akademischer Unterricht«, in: K. Piper (Hg.): Offener
Horizont. Festschrift für Karl Jaspers, München 1953,155-160.
28 Vgl. K. Jaspers an H. Gruhle, 23. März 1953, in: Jaspers: Korrespondenzen 1,171.
29 Ebd.
30 Der Psychiater August Homburger (1873-1930) kam 1907 nach Heidelberg, wo er 1920 die Leitung
der Poliklinik übernahm. Im Jahre 1911 habilitierte er sich, 1917 wurde er zum außerordentlichen
Professor ernannt.
31 Jaspers hatte sich dafür auch einen von dem Blutdruckforscher Heinrich Jacob von Recklinghau-
sen (1867-1942) entwickelten Apparat beschaffen müssen, da die Heidelberger Klinik einen sol-
chen nicht besaß. Im Briefwechsel mit der Familie äußert Jaspers den Verdacht, dass das Blut-
druck-Thema von Albert Fraenkel (1864-1938) Jaspers’ Betreuer Wilmanns suggeriert worden sei.