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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0012
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Einleitung der Herausgeberin

XI

ner psychiatrisch-forensischen Arbeit zum Heimweh war Jaspers bei Wilmanns zwei-
fellos besser aufgehoben, denn dieser hatte bereits mehrere Gutachten über Heimweh-
verbrechen erstellt und dazu auch ausführlich publiziert. Gerade diese Vertrautheit des
Betreuers mit dem Untersuchungsgegenstand hemmte aber wiederum den Doktoran-
den: War er bei den Blutdruckversuchen sich selbst überlassen, sah er sich jetzt einge-
engt in ein Thema, das ihm kaum Spielraum für eigene Auffassungen und Vorgehens-
weisen ließ. In einem Brief an Wilmanns vom 26. Juli 1933 schrieb Jaspers rückblickend:
»Dann gaben Sie mir als Thema der Dissertation das Heimweh, für das Sie Fälle, Litera-
tur und Grundgedanken schon bereit hatten, sodass mir nur Ausarbeitung und Erwei-
terung blieb.«* * 32 Die Dissertation erschöpfte sich somit in einer reinen akademischen
Pflichtübung, auf die Jaspers später nur selten und eher zurückhaltend verwies.33
Eine viel eifrigere Anteilnahme zeigte er, als ihn Wilmanns im Januar 1910 aufforderte,
an der von Alois Alzheimer und Max Lewandowsky neu gegründeten Zeitschrift für die ge-
samte Neurologie und Psychiatrie mitzuwirken.34 In der Zeitschrift wurden sowohl Original-
beiträge als auch Übersichtsreferate publiziert. Vor allem in Letzteren sah Jaspers endlich
die Möglichkeit, seine eigenen Gedanken und Anliegen frei darzulegen. Dass sich der So-
ziologe Max Weber, Jaspers’ methodologisches Vorbild, vielfach in dieser Form geäußert
hatte, machte das Format für ihn besonders ansprechend.35 Gleichzeitig versprach sich
der junge Arzt viel vom Ansatz der Zeitschrift, denn sie sollte »entgegen den jetzt durch-
weg neurologisch gerichteten Fachblättern« »wesentlich psychiatrisch« orientiert sein.36
In der Tat hatten die neurologischen Themen in der psychiatrischen Forschung im letz-
ten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts überwogen.37 Dieses Missverhältnis war nicht
zuletzt Ausdruck langjähriger Bestrebungen der Psychiater, sich durch anatomisch-
pathologische Forschung wissenschaftlich zu legitimieren und gleichzeitig die beharrli-

Die Vermutung ist insofern gerechtfertigt, als Fraenkel in Straßburg bei Recklinghausens Vater
Friedrich studiert hatte und mit dessen Familie eng befreundet war.
32 K. Jaspers an K. Wilmanns, 26. Juli 1933, in: Jaspers: Korrespondenzen I, 620.
33 Den Eltern verriet er bald nach der Promotion: »In der Arbeit liegt nichts von mir. Sie wurde unter
dem Druck der Notwendigkeit gemacht.« (K. Jaspers an die Eltern, 17. März 1909, DLA, A: Jaspers).
Wenig später gestand er seiner Schwester: »Ich würde eine solche Arbeit nicht gemacht haben,
wenn man nicht ein Dr.-Examen machen müsste.« (K. Jaspers an E. Dugend, 20. Juni 1909, ebd.).
34 Die Zeitschrift war eigentlich eine Weiterführung des Centralblatts für Nervenheilkunde und
Psychiatrie. Alzheimer und Lewandowsky waren respektive für die psychiatrische und die neuro-
logische Abteilung zuständig.
35 »Ich wurde von Wilmanns gedrängt, meine Eifersuchtsarbeit dafür zu schreiben und kritische
Übersichtsreferate zu liefern. Ich glaube, das Letztere wird mir sehr liegen. Es ist die Form, in der
auch Max Weber vielfach schreibt. Man kann darin Gedankengänge bringen, ohne immer gleich
abgeschlossene wissenschaftliche Arbeiten liefern zu müssen. Man kann zu Manchem seine Mei-
nung aussprechen, die sonst für die Öffentlichkeit verloren ginge« (K. Jaspers an die Eltern,
10. Januar 1910, DLA, A: Jaspers). Siehe hierzu auch Anm. 105.
36 Ebd.
37 Vgl. A. Hirschmüller: »The development of psychiatry and neurology in the nineteenth Century«,
in: History ofPsychiatry 10 (1999) 395-423.
 
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