Einleitung der Herausgeberin
XV
2. Lebensgeschichte und Psychopathologie - Jaspers' Forderung
»biographischer Krankengeschichten «
Jaspers verfasste seine psychopathologischen Schriften an der Heidelberger Psychia-
trischen Klinik, also an einer Institution, die schwerpunktmäßig auf Forschung und
Lehre ausgerichtet war.57 Um ein möglichst breites Spektrum von Krankheitsfällen un-
tersuchen und den Studenten vorführen zu können, waren Universitätskliniken auf
einen hohen Patientendurchsatz angewiesen. Nach Kraepelin, der von 1891 bis 1903
Klinikleiter in Heidelberg war, sollte die Universitätsklinik wie eine »diagnostische
Durchgangsstation«, d.h. wie ein Filter, funktionieren: Wissenschaftlich und didak-
tisch wertvolle Fälle sollten möglichst früh identifiziert, ungeeignete Patienten so
schnell wie möglich in eine Heil-und Pflegeanstalt verlegt werden. Im Idealfall waren
Diagnose und Prognose »sofort nach der ersten Untersuchung« zu erstellen.58 Die hohe
Aufnahme- und Verlegungsfrequenz ermöglichte es zwar, zahlreiche Fälle zu erfassen,
beeinträchtigte jedoch die Berücksichtigung des gesamten Krankheitsverlaufs des Pa-
tienten. Im Unterschied zu den großen Anstalten, in denen die Kranken oft über Jahre
hinweg verweilten, war an den universitären Einrichtungen eine langfristige Beobach-
tung des >Krankenmaterials< - wie man die Patienten zu bezeichnen pflegte - kaum
möglich. Nach Angaben von Hans Gruhle,59 60 der 1905 nach Heidelberg kam, war dies
»jene wenig glückliche Zeit, in der die Krankenblätter vorwiegend klinische Schlag-
worte enthielten: Echopraxie, Flexibilitas cerea, Katalepsie, Stereotypie usw.«6° Gruh-
les rückblickende Einschätzung mag vielleicht ein wenig überspitzt sein. Es ist jedoch
anzunehmen, dass die Krankenakten besonders in den Universitätskliniken - nicht
57 Jaspers rekonstruiert die Atmosphäre, die hier unter Nissl herrschte, in seiner Philosophischen Au-
tobiographie, 17-20.
58 E. Kraepelin: »Ziele und Wege der klinischen Psychiatrie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
und psychisch-gerichtliche Medicin 53 (1897) 840-848, hier: 842. Zur Umstrukturierung der (Heidel-
berger) Psychiatrischen Universitätsklinik um die Jahrhundertwende und zur Reform der klini-
schen Schreibpraktiken durch Kraepelin siehe E. Engstrom: »Die Ökonomie klinischer Inskrip-
tion. Zu diagnostischen und nosologischen Schreibpraktiken in der Psychiatrie«, in: C. Borck,
A. Schäfer (Hg.): Psychographien, Zürich, Berlin 2005,219-240.
59 Der Psychiater Hans Walther Gruhle (1880-1958) wurde bald zu Jaspers’ wissenschaftlichem Dia-
logpartner. In seiner Philosophischen Autobiographie beschreibt ihn Jaspers wie folgt: »Der schärfste
Kritiker war Gruhle. Gar nichts schien er gelten zu lassen, wenn bei den Zusammenkünften etwas
von mir vorgetragen wurde. Ich geriet in große Erregung. Seine Kritik war ein fruchtbarer Ansporn.
Die Skizze eines kleinen Aufsatzes über die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psych-
iatrie, d.h. über meine Versuche und Pläne, hatte ich an einem Abend vorgetragen. Gruhle zer-
setzte scheinbar alles. Nun erst schrieb ich, gewiß, auf rechtem Wege zu sein, in wenigen Tagen
den Aufsatz, brachte alles deutlicher heraus, legte das Manuskript Gruhle vor, der nun zu meiner
großen Überraschung und Freude einverstanden war« (K. Jaspers: Philosophische Autobiographie,
27-28). Trotz zunehmender Meinungsdivergenzen blieb der Kontakt bis zu Gruhles Tod bestehen
(vgl. hierzu Jaspers: Korrespondenzen I, 95-178).
60 H. W. Gruhle: »Kraepelins Bedeutung für die Psychologie«, in: Archiv für Psychiatrie und Nerven-
krankheiten 87 (1929) 43-49, hier: 46.
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2. Lebensgeschichte und Psychopathologie - Jaspers' Forderung
»biographischer Krankengeschichten «
Jaspers verfasste seine psychopathologischen Schriften an der Heidelberger Psychia-
trischen Klinik, also an einer Institution, die schwerpunktmäßig auf Forschung und
Lehre ausgerichtet war.57 Um ein möglichst breites Spektrum von Krankheitsfällen un-
tersuchen und den Studenten vorführen zu können, waren Universitätskliniken auf
einen hohen Patientendurchsatz angewiesen. Nach Kraepelin, der von 1891 bis 1903
Klinikleiter in Heidelberg war, sollte die Universitätsklinik wie eine »diagnostische
Durchgangsstation«, d.h. wie ein Filter, funktionieren: Wissenschaftlich und didak-
tisch wertvolle Fälle sollten möglichst früh identifiziert, ungeeignete Patienten so
schnell wie möglich in eine Heil-und Pflegeanstalt verlegt werden. Im Idealfall waren
Diagnose und Prognose »sofort nach der ersten Untersuchung« zu erstellen.58 Die hohe
Aufnahme- und Verlegungsfrequenz ermöglichte es zwar, zahlreiche Fälle zu erfassen,
beeinträchtigte jedoch die Berücksichtigung des gesamten Krankheitsverlaufs des Pa-
tienten. Im Unterschied zu den großen Anstalten, in denen die Kranken oft über Jahre
hinweg verweilten, war an den universitären Einrichtungen eine langfristige Beobach-
tung des >Krankenmaterials< - wie man die Patienten zu bezeichnen pflegte - kaum
möglich. Nach Angaben von Hans Gruhle,59 60 der 1905 nach Heidelberg kam, war dies
»jene wenig glückliche Zeit, in der die Krankenblätter vorwiegend klinische Schlag-
worte enthielten: Echopraxie, Flexibilitas cerea, Katalepsie, Stereotypie usw.«6° Gruh-
les rückblickende Einschätzung mag vielleicht ein wenig überspitzt sein. Es ist jedoch
anzunehmen, dass die Krankenakten besonders in den Universitätskliniken - nicht
57 Jaspers rekonstruiert die Atmosphäre, die hier unter Nissl herrschte, in seiner Philosophischen Au-
tobiographie, 17-20.
58 E. Kraepelin: »Ziele und Wege der klinischen Psychiatrie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
und psychisch-gerichtliche Medicin 53 (1897) 840-848, hier: 842. Zur Umstrukturierung der (Heidel-
berger) Psychiatrischen Universitätsklinik um die Jahrhundertwende und zur Reform der klini-
schen Schreibpraktiken durch Kraepelin siehe E. Engstrom: »Die Ökonomie klinischer Inskrip-
tion. Zu diagnostischen und nosologischen Schreibpraktiken in der Psychiatrie«, in: C. Borck,
A. Schäfer (Hg.): Psychographien, Zürich, Berlin 2005,219-240.
59 Der Psychiater Hans Walther Gruhle (1880-1958) wurde bald zu Jaspers’ wissenschaftlichem Dia-
logpartner. In seiner Philosophischen Autobiographie beschreibt ihn Jaspers wie folgt: »Der schärfste
Kritiker war Gruhle. Gar nichts schien er gelten zu lassen, wenn bei den Zusammenkünften etwas
von mir vorgetragen wurde. Ich geriet in große Erregung. Seine Kritik war ein fruchtbarer Ansporn.
Die Skizze eines kleinen Aufsatzes über die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psych-
iatrie, d.h. über meine Versuche und Pläne, hatte ich an einem Abend vorgetragen. Gruhle zer-
setzte scheinbar alles. Nun erst schrieb ich, gewiß, auf rechtem Wege zu sein, in wenigen Tagen
den Aufsatz, brachte alles deutlicher heraus, legte das Manuskript Gruhle vor, der nun zu meiner
großen Überraschung und Freude einverstanden war« (K. Jaspers: Philosophische Autobiographie,
27-28). Trotz zunehmender Meinungsdivergenzen blieb der Kontakt bis zu Gruhles Tod bestehen
(vgl. hierzu Jaspers: Korrespondenzen I, 95-178).
60 H. W. Gruhle: »Kraepelins Bedeutung für die Psychologie«, in: Archiv für Psychiatrie und Nerven-
krankheiten 87 (1929) 43-49, hier: 46.