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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0017
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XVI

Einleitung der Herausgeberin

zuletzt durch die Einführung von Vordrucken - um 1900 ihren narrativen Reichtum
eingebüßt hatten.61
In der Allgemeinen Psychopathologie veranschaulichte Jaspers die Kluft, die sich um
die Jahrhundertwende zwischen Anstalts- und Universitätspsychiatrie aufgetan hatte,
anhand der jeweiligen Erkenntnis- und Darstellungsmethoden.62 Nach ihm hätten al-
lein die Anstaltspsychiater »in dem engen, regelmäßigen Zusammenleben mit den
Kranken durch lange Zeit hindurch [...] feiner beobachtete Biographien Kranker lie-
fern, ein tiefer in die seelischen Zusammenhänge des Kranken eindringendes, nach-
erlebendes Einfühlen in sich entwickeln können«.63 Die akademische Psychiatrie hin-
gegen werde von Ärzten gefördert, »die nicht mehr von früh bis spät das Leben mit
ihren Kranken teilten, sie geriet in Laboratorien, sei es für Hirnanatomie, sei es für ex-
perimentelle Psychopathologie, sie wurde herzloser, kleinlicher, unpersönlicher, un-
gebildeter, sie verlor sich in endlose Einzelheiten, Messungen, Zählungen, Befunde,
verlor das Bildhafte und Gestaltete.«64
Jaspers selbst hatte sich bei seiner Blutdruck-Studie in den Messungen und Zählun-
gen der sogenannten »Kurven-Psychiatrie«65 verfangen. Später behauptete er zwar,
dass aus den Versuchen »allerhand herauskam« und dass er es nur »versäumt hatte«,
die Resultate zu publizieren.66 In Wirklichkeit aber hatte er die Experimente frühzei-
tig abgebrochen und in seinem Arbeitsheft die eigenen epistemologischen Bedenken
eindeutig formuliert: »Wenn da jeder eigentlich neu ist, wie soll man Regelmässigkei-
ten in dem normalerweise schwankenden Bl[ut]-Dr[uck] finden!« »Eigentlich verstän-
digen kann man sich da nie durch einfaches Aussprechen der Diagnose, sondern nur
durch eingehende Schilderung des Einzelfalles«, bemerkte er. Die Methode regelmä-
ßiger Messungen schien ihm darum »unbrauchbar«.67

61 Vgl. z.B. B. Bernet: »»Einträgen und Ausfüllen« Der Fall des psychiatrischen Formulars«, in: S. Brändli
u.a. (Hg.): Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und
Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2009,62-91.
62 Die Einführung dieses Begriffspaares wird Üblicherweisejaspers zugeschrieben. Die Begriffe wur-
den jedoch schon vor der Jahrhundertwende gebraucht und die entsprechenden Ansätze einan-
der gegenübergestellt. Siehe z.B. [T. Ziehen]: »Necrolog. Karl Ludwig Kahlbaum«, in: Monatsschrift
für Psychiatrie und Neurologie 5 (1899) 479-480.
63 Jaspers: Allgemeine Psychopathologie [1913], 328-329.
64 Ebd., 328.
65 Der Begriff stammt von Paul Näcke und war keineswegs pejorativ gemeint. Vgl. P. Näcke: »Über
den Wert der sogenannten >Kurven-Psychiatrie<«, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psy-
chisch-gerichtliche Medicin 61 (1903), 280-295.
66 K. Jaspers an H. Gruhle, 23. März 1953, in: K. Jaspers: Korrespondenzen I,171.
67 K. Jaspers: »Blutdruckuntersuchungen« [Winter 1906/07], in: J.-F. Leonhard (Hg.): Karl Jaspers in
seiner Heidelberger Zeit, Heidelberg 1983, 59-61. Beinahe wortgleich äußerte sich Jaspers später in
seiner Arbeit zum Eifersuchtswahn: »Man kann sich in der Psychiatrie nicht verständigen ohne
die Schilderung einzelner Fälle. Diese sind die Ecksteine, ohne die unsere Begriffsgebilde zusam-
menfallen« (K. Jaspers: »Eifersuchtswahn«, in diesem Band, S. 107).
 
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