XX
Einleitung der Herausgeberin
dem sogenannten >Methodenstreit<. In den frühen 1880er Jahren im Rahmen der Na-
tionalökonomie entfacht, war der Methodenstreit im Kern ein Streit um den Erkennt-
nisbereich und die Erkenntnismethodik, kurz: um den Status der einzelnen Geistes-
und Sozialwissenschaften. Maßgeblich waren dabei besonders die Erörterungen
Wilhelm Diltheys.83 Jaspers stellte zwar dem >Verstehen< das >Begreifen< gegenüber, die
Verwandtschaft seiner Argumentation mit Diltheys berühmtem Diktum »Die Natur
erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«84 ist dennoch kaum zu übersehen. Dilthey
war allerdings von einer wesentlichen Unterscheidung von Natur und Seele ausgegan-
gen, während Jaspers’ Position sich eher mit jener der südwestdeutschen Neukantianer
Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert vereinbaren lässt, für welche nicht so sehr
der Gegenstand als vielmehr das Erkenntnisziel der einzelnen Wissenschaften bestim-
mend war: »Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtli-
che Tatsachen«, hatte Windelband, der später in Heidelberg lehrte, postuliert.85
Man hat nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, wie wenig Jaspers die Grundbegriffe
>Erklären< und >Verstehen< reflektiert, und dass diese insgesamt »merkwürdig blaß und
unscharf« bleiben.86 Dies gilt für die allerersten Schriften im besonderen Maße, wes-
sen sich Jaspers offensichtlich bald bewusst wurde. Schon in der ersten Auflage der All-
gemeinen Psychopathologie bemühte er sich nämlich um eine Präzisierung.87 Doch erst
in der vierten Auflage kam es zu einer genaueren Bestimmung der Begriffe, wobei es
besonders um die »Grenzen des Verstehens« geht.88 Gleichwohl kann man behaupten,
83 Vgl. hierzu z.B. J. Reiter: »Erklären und Verstehen. Das Historismusproblem im Anschluß an
Dilthey«, in: H. Rombach (Hg.): Wissenschaftstheorie I. Probleme und Positionen der Wissenschafts-
theorie, Freiburg i.Br. 1974, 32-36. Zur Einordnung der Jaspers’schen Psychopathologie in diesen
Zusammenhang vgl. D. v. Engelhardt: »Erklären und Verstehen - Karl Jaspers im Kontext der Me-
dizin- und Philosophiegeschichte«, in: ders., H.-J. Gerigk (Hg.): Karl Jaspers im Schnittpunkt von
Zeitgeschichte, Psychopathologie, Literatur und Film, Heidelberg 2009,17-36; S. Achella: Rimanere in
cammino. Karl Jaspers e la »crisi« della filosofia, Neapel 2012, bes. 65-122.
84 W. Dilthey: »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« [1894], in: Gesam-
melte Schriften, Bd. V, hg. von G. Misch, Leipzig 1924,139-240, hier: 144. - Die Scheidung von Er-
klären und Verstehen geht zwar auf Gustav Droysen zurück, die Wirkung seiner Schriften war je-
doch viel geringer.
85 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede, gehalten von dem Rector Dr. Wilhelm Win-
delband, Straßburg 1894,25.
86 Vgl. W. Schmitt: »Karljaspers und die Methodenfrage«, in: W. Janzarik (Hg.): Psychopathologie als
Grundlagenwissenschaft, Stuttgart 1979, 74-82, hier: 77.
87 »Um Missverständnissen und Unklarheiten aus dem Wege zu gehen, gebrauchen wir den Aus-
druck >verstehen< immer für das von innen gewonnene Anschauen des Seelischen. [...] Das Erken-
nen objektiver Kausalzusammenhänge, die immer nur von außen gesehen werden, nennen wir
niemals Verstehen, sondern immer Erklären. [...] Das Wort >Begreifen< gebrauchen wir dagegen im
unbestimmten Sinne für beides (in fraglichen Fällen oder wenn Verstehen und Erklären zusam-
men gemeint sind)« (AllgemeinePsychopathologie [1913], 14).
88 Die vierte Auflage kann als ein völlig neues Buch betrachtet werden, das nur aus marktstrategi-
schen Gründen denselben Namen trägt. Die Verdoppelung des Seitenumfangs (von 338 auf 748
Seiten, unverändert bis zur neunten Auflage) gibt schon eine Vorstellung von den Erweiterungen,
Einleitung der Herausgeberin
dem sogenannten >Methodenstreit<. In den frühen 1880er Jahren im Rahmen der Na-
tionalökonomie entfacht, war der Methodenstreit im Kern ein Streit um den Erkennt-
nisbereich und die Erkenntnismethodik, kurz: um den Status der einzelnen Geistes-
und Sozialwissenschaften. Maßgeblich waren dabei besonders die Erörterungen
Wilhelm Diltheys.83 Jaspers stellte zwar dem >Verstehen< das >Begreifen< gegenüber, die
Verwandtschaft seiner Argumentation mit Diltheys berühmtem Diktum »Die Natur
erklären wir, das Seelenleben verstehen wir«84 ist dennoch kaum zu übersehen. Dilthey
war allerdings von einer wesentlichen Unterscheidung von Natur und Seele ausgegan-
gen, während Jaspers’ Position sich eher mit jener der südwestdeutschen Neukantianer
Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert vereinbaren lässt, für welche nicht so sehr
der Gegenstand als vielmehr das Erkenntnisziel der einzelnen Wissenschaften bestim-
mend war: »Die einen suchen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtli-
che Tatsachen«, hatte Windelband, der später in Heidelberg lehrte, postuliert.85
Man hat nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, wie wenig Jaspers die Grundbegriffe
>Erklären< und >Verstehen< reflektiert, und dass diese insgesamt »merkwürdig blaß und
unscharf« bleiben.86 Dies gilt für die allerersten Schriften im besonderen Maße, wes-
sen sich Jaspers offensichtlich bald bewusst wurde. Schon in der ersten Auflage der All-
gemeinen Psychopathologie bemühte er sich nämlich um eine Präzisierung.87 Doch erst
in der vierten Auflage kam es zu einer genaueren Bestimmung der Begriffe, wobei es
besonders um die »Grenzen des Verstehens« geht.88 Gleichwohl kann man behaupten,
83 Vgl. hierzu z.B. J. Reiter: »Erklären und Verstehen. Das Historismusproblem im Anschluß an
Dilthey«, in: H. Rombach (Hg.): Wissenschaftstheorie I. Probleme und Positionen der Wissenschafts-
theorie, Freiburg i.Br. 1974, 32-36. Zur Einordnung der Jaspers’schen Psychopathologie in diesen
Zusammenhang vgl. D. v. Engelhardt: »Erklären und Verstehen - Karl Jaspers im Kontext der Me-
dizin- und Philosophiegeschichte«, in: ders., H.-J. Gerigk (Hg.): Karl Jaspers im Schnittpunkt von
Zeitgeschichte, Psychopathologie, Literatur und Film, Heidelberg 2009,17-36; S. Achella: Rimanere in
cammino. Karl Jaspers e la »crisi« della filosofia, Neapel 2012, bes. 65-122.
84 W. Dilthey: »Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie« [1894], in: Gesam-
melte Schriften, Bd. V, hg. von G. Misch, Leipzig 1924,139-240, hier: 144. - Die Scheidung von Er-
klären und Verstehen geht zwar auf Gustav Droysen zurück, die Wirkung seiner Schriften war je-
doch viel geringer.
85 W. Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft. Rede, gehalten von dem Rector Dr. Wilhelm Win-
delband, Straßburg 1894,25.
86 Vgl. W. Schmitt: »Karljaspers und die Methodenfrage«, in: W. Janzarik (Hg.): Psychopathologie als
Grundlagenwissenschaft, Stuttgart 1979, 74-82, hier: 77.
87 »Um Missverständnissen und Unklarheiten aus dem Wege zu gehen, gebrauchen wir den Aus-
druck >verstehen< immer für das von innen gewonnene Anschauen des Seelischen. [...] Das Erken-
nen objektiver Kausalzusammenhänge, die immer nur von außen gesehen werden, nennen wir
niemals Verstehen, sondern immer Erklären. [...] Das Wort >Begreifen< gebrauchen wir dagegen im
unbestimmten Sinne für beides (in fraglichen Fällen oder wenn Verstehen und Erklären zusam-
men gemeint sind)« (AllgemeinePsychopathologie [1913], 14).
88 Die vierte Auflage kann als ein völlig neues Buch betrachtet werden, das nur aus marktstrategi-
schen Gründen denselben Namen trägt. Die Verdoppelung des Seitenumfangs (von 338 auf 748
Seiten, unverändert bis zur neunten Auflage) gibt schon eine Vorstellung von den Erweiterungen,