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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0027
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XXVI

Einleitung der Herausgeberin

düng mit dem systematischen und wirkungsreicheren Nachfolgewerk die Rezeption
der einzelnen Beiträge nicht beeinflusst hat. Das Ausmaß der Interferenz - sei sie nun
hemmend oder fördernd gewesen - ist ebenso schwer einzuschätzen. Gerade aufgrund
dieser Nähe ist eine Bewertung der genuinen, d.h. von der Allgemeinen Psychopathologie
unabhängigen, Resonanz der Frühschriften kaum möglich.
Jaspers’ Heimweh-Arbeit, die er in der Allgemeinen Psychopathologie nur einmal bei-
läufig zitiert, nimmt auch rezeptionsgeschichtlich eine Sonderstellung ein.* * * * * * * * 119 Als
Jaspers seine Dissertation vorlegte, war die medizinische Diskussion über dieses Thema
bereits rückläufig, wenn nicht schon gänzlich beendet.120 Die charakteristischen
>Heimwehverbrechen<, Brandstiftung und Kindesmord, kamen in der Tat äußerst sel-
ten vor. Überdies ließen die reise- und kommunikationstechnischen Fortschritte, die
Redundanz des Fachdiskurses und die Ablösung bzw. die Absorption des Heimwehs
durch modernere Krankheiten wie die Neurasthenie oder die Kriegsneurose in den Fol-
gejahren das Heimweh wissenschaftlich zunehmend obsolet erscheinen. Schon 1912,
also kurz nach Jaspers’ Promotion, setzte Gruhle in seiner Studie zur Jugendkrimina-
lität den Begriff Heimweh demonstrativ in Anführungszeichen.121 Die geringschät-
zende Haltung der Psychoanalyse, die das Phänomen weithin ignorierte, begrub das
Thema endgültig. »[E]in >Heim<weh im Sinne einer Sehnsucht nach einer bekannten
Umgebung existiert nicht«, tönte es 1936 aus dem Organ der Internationalen Psycho-
analytischen Vereinigung.122 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Heimweh -
als gleichnamiges Syndrom - wissenschaftlich wieder respektiert und somit umfang-
reicher diskutiert.123 So verwundert es nicht, dass Jaspers selbst den Gegenstand nicht
wieder aufgriff und auch die Fachkollegen seine Arbeit kaum wahrnahmen. Bezeich-

die subjektiven seelischen Zusammenhänge deskriptiv im statischen Verstehen erfasst, und die
am Bild des psychischen Reflexbogens orientierte objektive Psychopathologie. Die Zusammen-
hänge des Seelenlebens werden als verständliche und als kausale Zusammenhänge unterschie-
den. Sie sind genetisch zu verstehen oder kausal zu erklären. Die Gesamtheit der Leistungsfähig-
keiten wird als Intelligenz, das Ganze der verständlichen Zusammenhänge wird als Persönlichkeit
erfasst. Auf diesen Grundlagen wird unter Anlehnung vor allem an Kahlbaum und Kraepelin eine
Synthese der Krankheitsbilder entwickelt« (W. Janzarik: »Jaspers, Kurt Schneider und die Heidel-
berger Psychopathologie«, in: Hersch u.a. (Hg.): Karl Jaspers, 114).
119 Vgl. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie [1913], 162. Auch in dem 1915/16 verfassten, jedoch erst
postum veröffentlichten, Manuskript über die Einsamkeit blieb das Heimweh unerwähnt (vgl.
K. Jaspers: »Einsamkeit«).
120 Vgl. G. Rosen: »Nostalgia: a >forgotten< psychological disorder«, in: Psychological Medicine 5 (1975)
340-354.
121 Vgl. H. Gruhle: Die Ursachen der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität. Studien zur Frage:
Milieu oder Anlage, Berlin u.a. 1912,245.
122 W. Nicolini: »Verbrechen aus Heimweh und ihre psychoanalytische Erklärung«, in: Imago 22
(1936) 9-120, hier: 115. - Nicolini erwähnt hier Jaspers’ Arbeit nicht ein einziges Mal. Dagegen
wird Wilmanns mehrfach zitiert.
123 Zum Verschwinden und zur wissenschaftlichen >Wiedergeburt< des Heimwehs vgl. Bunke: Heim-
weh, 215-250.
 
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