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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0029
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XXVIII

Einleitung der Herausgeberin

alle bisherigen Beiträge von Jaspers lobend, aber eher lakonisch entgegengenommen
hatte, äußerte er sich in diesem Falle sehr ausführlich, und ohne eine gewisse Verstim-
mung zu verhehlen: »Ich bin durchaus nicht der Meinung«, schrieb er, »dass alles so ge-
macht werden muss, wie ich es selbst machen würde. Ich habe Ihre feinen und geistrei-
chen Arbeiten durchaus nicht in den Wind geschlagen und kenne die Berechtigung
derselben durchaus an. Nur halte ich zunächst andere Wege für dringlicher für die klini-
sche Psychiatrie«.128 Zugleich gab er auch seinen fehlenden Sachverstand zu: »Einen [sic!]
Menschen, der in 25 Jahren seines Lebens seine wissenschaftliche Arbeitszeit damit ver-
bracht hat, dass er ins Mikroscop sah, liegen feinere psychologische Untersuchungen nicht
und es würde [n] ihm auch die nötigen Kenntnisse fehlen, die ihn vor Irrwegen schützen
könnten«.129 Alzheimer geht nicht weiter auf den Inhalt der Jaspers’schen Arbeit ein. Sein
Affekt und gleichzeitig seine Behutsamkeit zeigen allerdings deutlich, dass Jaspers bei ihm
empfindliche Punkte berührt hatte, wenn nicht »den wundesten Punkt im modernen psy-
chiatrischen Denken«, wie der Münchner Psychiater Ernst Kretschmer einige Jahre später
feststeilte.130 Die Reaktion der Fachkollegen war dementsprechend energisch.
Bald nach der Veröffentlichung des Aufsatzes, aber noch vor der Publikation der
Allgemeinen Psychopathologie, erreichte Jaspers ein Sonderdruck aus der jüngst von Sig-
mund Freud gegründeten Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse.131 Die kurze Arbeit, sig-
niert von dem schweizerischen Psychiater Ludwig Binswanger, griff Jaspers’ »schroffe
Gegenüberstellung« von >kausal< und >verständlich< und die darauf basierende Freud-
Kritik frontal an.132 Jaspers’ Begriffe des psychologischen Verstehens und der biologi-
schen (im physikalischen Sinne aufgefassten) Kausalität wirkten Binswanger zu eng
gefasst: Seine kausale Erklärung in der Psychologie sei im Grunde nur eine psychophy-
sische, die Negierung einer psychischen Kausalität eine petitio principii. Statt auf die
»z.T. richtig [en]« Einwände des Kollegen einzugehen, kündigte Jaspers in seinem Ant-
wortschreiben die unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung seiner Allgemeinen Psy-
chopathologie an. Eine Erwiderung glaubte er bis zu deren Publikation aufschieben zu
dürfen, denn seine »damalige Arbeit«, so erklärte er mit ungewöhnlicher Distanz ge-
genüber einem jüngst erschienenen Aufsatz, wäre daraus bloß »ein Exzerpt«.133

128 A. Alzheimer an K. Jaspers, 30. November 1912, DLA, A: Jaspers. Zu Alzheimers vorangegangenen
Reaktionen auf Jaspers’ Arbeiten siehe Stellenkommentar, Nr. 372 und 803.
129 A. Alzheimer an K. Jaspers, 30. November 1912, DLA, A: Jaspers.
130 E. Kretschmer: »Die psychopathologische Forschung und ihr Verhältnis zur heutigen klinischen
Psychiatrie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 57 (1920) 233-256, hier: 246.
131 L. Binswanger an K. Jaspers, 4. August 1913, in: K. Jaspers: Korrespondenzen 1,34.
132 L. Binswanger: »Bemerkungen zu der Arbeit Jaspers’ Kausale und >verständliche< Zusammenhänge
zwischen Schicksal und Psychose bei der Dementia praecox (Schizophrenie)«, in: Internationale
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse 1 (1913) 383-390, hier: 383.
133 K. Jaspers an L. Binswanger, 7. August 1913, in: Jaspers: Korrespondenzen 1,35. - Binswanger kam in der
Tat nach der Veröffentlichung der Allgemeinen Psychopathologie auf Jaspers zurück, indem er seine
frühere Kritik bestätigte. Vgl. z.B. L. Binswanger: »Psychologische Tagesfragen innerhalb der klini-
 
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