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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0030
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Einleitung der Herausgeberin

XXIX

Die Vertagung der Auseinandersetzung mit Binswanger könnte für Jaspers durch-
aus ein diplomatischer Trick gewesen sein, um dessen Polemik ignorieren zu können.
Andererseits ist es naheliegend, dass der junge Arzt - Jaspers war gerade dreißig Jahre
alt geworden - sein Lehrbuch als Referenzwerk verstanden wissen wollte. Offenbar zo-
gen es auch die Kollegen bald als Quelle heran. Im November 1913 prangerte Eugen
Bleuler Jaspers’ »künstliche« Unterscheidung zwischen >kausal< und >verständlich<
noch mit Bezugnahme auf den Aufsatz an.* * * * 134 Schon ein Jahr später zitierte Karl Frank-
häuser in seiner Arbeit über die »psychische Kausalität«, die Jaspers’ Überlegungen ex-
plizit zum Anlass nimmt, nur die Allgemeine Psychopathologie.135 Im Jahre 1921 stellte
auch der niederländische Psychiater van der Hoop die »kausalen und verständlichen
Zusammenhänge nach Jaspers« ausschließlich anhand des Buches dar, das mittler-
weile schon in der zweiten, verbesserten Auflage vorlag.136
Eine ähnliche Tendenz ließe sich, mehr oder minder akzentuiert, für alle weiteren Bei-
träge aufzeigen. Von einer direkten oder gar vollständigen Ablösung der psychopatholo-
gischen Frühschriften durch die Allgemeine Psychopathologie kann zwar nicht gesprochen
werden; nach deren Veröffentlichung wurden die Einzelbeiträge nämlich weiterhin ne-
ben und vereinzelt auch unabhängig von ihr diskutiert.137 In der langfristigen Rezeption
verschmolzen sie jedoch mit dem Buch - begünstigt auch durch dessen zahlreiche Neu-
auflagen -, um dann dauerhaft als Erstbeleg unterzugehen. Es ist bezeichnend, dass schon
im Jahre 1922 Binswanger sich verpflichtet fühlte, darauf aufmerksam zu machen, dass
Jaspers’ Aufsatz über den Eifersuchtswahn die »erst[e] psychopathologisch[e] Arbeit« war,
die »methodisch phänomenologische Gesichtspunkte« verwertete.138

sehen Psychiatrie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 26 (1914) 574-599- Zu die-
ser nie wirklich ausgetragenen Kontroverse siehe M. Bormuth: Lebensführung in der Moderne, 58-65;
L. Binswanger, P. Häberlin: Briefwechsel 1908-1960, mit Briefen von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung,
Karl Jaspers, Martin Heidegger, Ludwig Frank und Eugen Bleuler, hg. von J. Luczak, Basel 1998,26-48.
134 Vgl. E. Bleuler: »Die Kritiken der Schizophrenien«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psy-
chiatrie 22 (1914) 19-44, hier: 26. Jaspers’ Text ging am 1. November 1913 bei der Redaktion der
Zeitschrift ein (vgl. ebd., 19).
135 Vgl. K. Frankhäuser: »Über Kausalität im allgemeinen sowie »psychische Kausalität im besonde-
ren«, ebd. 29 (1915) 210-215.
136 J. H. van der Hoop: »Über die kausalen und verständlichen Zusammenhänge nach Jaspers«, ebd.
68 (1921) 9-30. -1924 nahm Walter Schweizer für seine Kritik an Jaspers’ Verstehensbegriff auch
die 1919 erschienene Psychologie der Weltanschauungen in Betracht. Vgl. W. Schweizer: Erklären und
Verstehen in der Psychologie, Bern 1924.
137 Vgl. z.B. die Besprechung des Aufsatzes über leibhaftige Bewusstheiten von O. S. Sterzinger in:
Zentralblatt für Psychologie und psychologische Pädagogik, mit Einschluss der Heilpädagogik 2 (1915)
235, und W. Baade: »Über die Vergegenwärtigung von psychischen Ereignissen durch Erleben,
Einfühlung und Repräsentation, sowie über das Verhältnis der Jaspers’schen Phänomenologie
zur darstellenden Psychologie«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 29 (1915)
347-378.
138 L. Binswanger: »Über Phänomenologie. Referat, erstattet auf der 63. Versammlung des schweize-
rischen Vereins für Psychiatrie in Zürich am 25. November 1922«, ebd. 82 (1923) 35.
 
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