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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0054
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Heimweh und Verbrechen2

i

Vorwort
Schon lange haben die mit unglaublicher Grausamkeit und rücksichtsloser Brutalität
ausgeführten Verbrechen (Mord und Brandstiftung) Interesse erregt, die man von zar-
ten Geschöpfen, jungen und gutmütigen, noch ganz im Kindesalter befindlichen Mäd-
chen ausgeführt sah. Der Widerspruch zwischen Tat und Täterin, die Motivlosigkeit
oder unzureichende Motivierung und darum das Rätselhafte und Unverständliche der
Ereignisse erregten Mitgefühl oder Abscheu.
Längst hat man einstimmig einen Teil der Individuen als schwachsinnig oder mora-
lisch idiotisch6 erkannt. Durch geringe Anlässe erregte Affekte oder blinde Impulse
führen bei ihnen die Tat herbei. Vor mehr als hundert Jahren hat man daneben als
eigene Ursache schon das Heimweh betrachtet. Durch die Arbeit von Wilmanns7
»Heimweh oder impulsives Irresein«8 ist die Frage nach der Bedeutung dieses Zustan-
des für Verbrechen und der psychiatrischen Auffassung desselben wieder angeregt wor-
den, nachdem sie lange geruht hatte. Da Behauptungen gegen Behauptungen stehen,
ohne daß die Art der Fälle überhaupt allgemein gekannt ist, erscheint es angebracht,
eine zusammenfassende Bearbeitung des spärlichen Erfahrungsbestandes auf diesem
Gebiet zu liefern, die vielleicht ein wenig zur Klärung der Fragen beitragen, sie aller-
dings nicht lösen kann.
Zu diesem Zwecke wurde zunächst historisch untersucht, was für Anschauungen
über das Heimweh und seine Bedeutung geherrscht haben. Dieser Teil gewann ein
gewisses selbständiges Interesse. Es erschien nicht überflüssig, auf diesem ganz kleinen
Gebiet eine Vorarbeit für den künftigen Historiker der Psychiatrie zu leisten, zumal da
deutlich wurde, daß das Heimweh früher in der Auffassung der Ärzte eine viel größere
Bedeutung hatte als heutzutage.
Ferner wurde versucht, die bis jetzt beschriebenen Fälle von Verbrechen aus Heim-
weh, die zum Teil in schwer zugänglichen Schriften zerstreut sind, zusammenzustel-
len. Die Beschreibungen entsprechen zwar zum großen Teil nicht den Anforderungen
der modernen Psychiatrie; kaum ein Fall ist dabei, bei dem man nicht noch Fragen
über Tatsächliches beantwortet haben möchte. Doch stellen sie das einzige Erfah-
rungsmaterial für unsere Frage dar. Zudem haben die Fälle durch ihre Eigenart und Sel-
tenheit soviel Interesse, daß ihre fast vollkommene Vergessenheit nicht berechtigt ist.
Bei der Spärlichkeit der Beobachtungen, aber auch aus historischem Interesse, sind
ältere Fälle, die nur sehr kurz berichtet sind, ebenfalls wiedergegeben.
 
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